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Ilse Helbich und Peter Stuiber, 21.10.2022

Zum 99. Geburtstag der Schriftstellerin Ilse Helbich

„Ich kann für nichts garantieren“

Mit 80 Jahren veröffentlichte Ilse Helbich ihr erstes Buch, zum 100. Geburtstag in einem Jahr soll ihr letztes erscheinen – falls ihr nicht doch noch etwas Neues einfällt. Wir haben die Schriftstellerin knapp vor ihrem 99. Geburtstag in ihrem Haus in Schönberg am Kamp besucht. Im Interview erzählt sie von inspirierenden Geschäften „in der Stadt“, eruptiven Veränderungen in ihrer Biografie und den unterschiedlichen Klangwelten von Wien.

Peter Stuiber

Sie feiern dieser Tage Ihren 99. Geburtstag. Wie geht es Ihnen?

Ilse Helbich

Es geht mir so, wie es einer sehr alten Frau geht, die manchmal noch von ihrer Vergangenheit lebt. Morgen erscheint eine Erzählung im „Standard“ [vom 15./16. Oktober], die Alte Schmiede veranstaltet im Jänner etwas für mich, es passieren schon noch Sachen. Mein letztes Buch erscheint zu meinem Hunderter, also erst in einem Jahr, aber das Manuskript ist schon fertig. Ich schreibe momentan nicht, diktiere auch nicht, aber kann für nichts garantieren. Vielleicht mache ich noch etwas, aber ich glaube nicht. Irgendwann muss man die Feder weglegen, auch im übertragenen Sinn.

PS

Worum geht es in dem fertigen Buch, das zum 100. Geburtstag erscheinen wird?

IH

Es sind drei Erzählungen. Sie spielen alle im dörflichen Bereich. Ich bin draufgekommen, dass ich damit in einem Trend liege: Angeblich sind Dorfgeschichten en vogue. Eine meiner Erzählungen ist eine Art Krimi, der dort aufhört, wo andere Krimis anfangen: Der Mord geschieht und dann ist die Geschichte aus. Ich habe noch Pläne, kleine Sachen zu schreiben. Aber das wird man sehen. Der Plan heißt „Welten“ und ist eine Beschreibung von anderen Zuständen, anderen Lokalitäten. Es geht teilweise… nicht in Richtung Science Fiction, aber in eine ausgedachte Welt. Ich bin darauf angewiesen, dass mir etwas einfällt, wie alle Autoren. Zurzeit fällt mir nichts ein. Ich sitze halt da und lebe.

IH

Was ich Ihnen gerne erzählen wollte, wäre: Wie ich ungefähr in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts meine Familienzeit durchlebt habe, war es für mich so spannend, dass die Innenstadt ein Sonderbezirk war. Bei uns hat es geheißen: Ich fahre in die Stadt. Das war sicher nicht der 8. Bezirk oder Mariahilf, sondern ausdrücklich der 1. Bezirk. Da hat unsere Familie Geschäfte gekannt, bei denen wir schon in der dritten Generation eingekauft haben. Da hat man freundliche Beziehungen zueinander gehabt. Man hat sich gegenseitig erzählt, ob die Kinder gesund sind und was es Neues in der Schule gibt. Ob es Geschäftssorgen gibt, hat man indirekt gefragt. Aber alles auf einer sehr förmlichen Stufe, es ist nie ins Private abgedriftet. Und dann hat es Plätze gegeben, zwischen den notwendigen Einkäufen für die Kinder, die waren Ruhepunkte, an die ich heute manchmal noch denke. Die waren für mich kulturell wichtige Stützpunkte. Darf ich Namen nennen?

PS

Natürlich, sehr gern!

IH

Das eine war die Buchhandlung Heger in der Wollzeile. Die Besitzerin war Christa Wagner. Ich habe immer darauf geschaut, dass ich dort vorbeikomme, und mir ein, zwei Bücher gekauft und mir zirka 20 Bücher zeigen lassen oder selber gesucht. Wenn man nicht gefragt hat – das war streng verboten! – dann wurde man in das Privatzimmer der Besitzerin eingeladen, mit Blick auf die Wollzeile. Dort hat man dann viele interessante Leute getroffen, es war so eine Art Vormittagssalon. Vor allem war dort immer Friedrich Hansen-Löve, der beim frühen Fernsehen den „Fenstergucker“ gemacht hat und ein großer Kulturvermittler war.

IH

Das war der eine Stützpunkt. Der zweite war ein Geschäft, das von einer gewissen Eva Riedl geführt hat. Sie war die Frau von Fritz Riedl, einem berühmten Teppichkünstler. Sie hat, nachdem sie geschieden war, sehr schöne Sachen entworfen, die von Handwerkern ausgeführt wurden: Schuhe, Handtaschen und sogar Möbel. Sie war eine Ästhetin, die sich quer durch alle Handwerke durchgearbeitet hat. Sie selber konnte aber nicht schneidern, sondern hatte einen Schnitt, so eine Art chinesischer Mao-Schnitt, und hat alles in diesem Stil gemacht: weit fallende Jacken und Hosen ohne Façon. Und dann hat sie noch T-Shirts gemacht, die mit Motiven aus Museen bedruckt waren. Das war mein zweiter Stützpunkt. Wie in der Buchhandlung gab es keine Privatgespräche, sondern nur einen Informationsaustausch. Den wird es anderswo auch gegeben haben. Aber ich habe ihn eben nicht aus Kaffeehäusern gekannt, sondern aus Geschäften.

IH

Der dritte Stützpunkt war eine Antiquitätenhandlung am Petersplatz. Die Besitzerin habe ich auf eigenartige Weise kennengelernt: Mein mittlerer Sohn ist sehr gern mit mir in die Stadt gegangen. Einmal sind wir beide vor diesem Antiquitätengeschäft gestanden und hielten dabei unsere Gesichter ziemlich nah an die Glasscheibe. Auf einmal hat es von drinnen sehr streng geklopft. Eine jüngere Frau ist herausgekommen und hat gesagt, wir sollen hereinkommen. Wir dachten, jetzt kommt eine Strafpredigt, dabei wurden wir beide eingeladen. In der Antiquitätenhandlung habe ich unglaubliche Sachen gesehen, das war ein ganz winziges Geschäft vorne und hinten war ein großes Magazin. Ich habe dort sehr viel Kunstgeschichte am Kunstwerk beigebracht bekommen. Heute ist das Geschäft verschwunden. Aber wenn ich zurückdenke, habe ich in den erwähnten Geschäften sehr viele lebendige Beziehungen zur Literatur einerseits, zur bildenden Kunst andererseits eingeflößt bekommen.

PS

Sie haben vorher Eva Riedl erwähnt, die als emanzipierte Frau nach ihrer Scheidung einen sehr eigenständigen Weg gegangen ist, nicht unähnlich zu Ihrer eigenen Biografie. Sie waren ja lange Jahre in einer sehr traditionellen Frauenrolle, ehe Sie damit radikal gebrochen haben. War Eva Riedl für Sie ein Vorbild?

IH

Es war eine Bestätigung für meine Geheimseite. Bevor ich mit 80 als Autorin außen sichtbar wurde, habe ich ja schon die ganze Zeit gearbeitet. Ich hatte in der „Presse“ ein Feuilleton, ich habe viel über Wittgenstein gemacht, unter anderem einen Film. Neben meiner Ehe mit sehr vielen sozialen Verpflichtungen waren die Besuche in der Inneren Stadt eine Erinnerung an meine andere Seite und haben diese gestärkt. Ich habe in letzter Zeit etwas sehr Interessantes erlebt. Es wurde mit mir und anderen Frauen ein Film mit dem Namen „The Century of Women“ gedreht, von einem Regisseur namens Ulriche Gaulke. Der Film kommt erst nächstes Jahr in die Kinos, und in einer Kurzfassung auch auf ARTE. Der Dreh war für mich ausgesprochen spannend, weil mir dabei erst klargeworden ist, wie meine Entwicklung als Frau verlaufen ist und wie eruptiv so eine Entwicklung sein kann. Wie man sich als Frau irgendwie den Weg freikämpft. Die Entwicklung passiert nicht sehr smoothly, man geht nicht aus einer Ehe, man hebt nicht eine patriarchale Firmenstruktur aus den Angeln. Der Aufbruch ist ein eruptiver Ausbruch! Mir ist klar geworden, dass das in vielen Fällen so verläuft und dass ich keine Einzelerscheinung bin. Bei mir war es vielleicht manchmal von außen gesehen besonders krass. Heute fühle ich mich in meiner Haut sehr wohl und habe das Gefühl, dort zu sein, wo ich hingehöre. Ich habe nicht das Gefühl, dass noch irgendwelche eruptiven Veränderungen auf mich warten, außer vielleicht mein Tod, aber den beherrsche ich nicht mehr.

PS

Heute ist die Sichtbarkeit von selbstbestimmten Frauen viel größer als damals. Wie haben Sie die Situation seinerzeit empfunden?

IH

Heute wundere ich mich darüber, wieviele Universitätsprofessorinnen es gibt, wieviele Wissenschaflterinnen oder Künstlerinnen. Die sind, glaube ich, nicht von der feministischen Seite hochgepusht worden, sondern es war eher eine Entwicklung, die von innen gewachsen ist. Die Männerseite war in meiner Zeit ungeheuer selbstsicher. Ich kann mich daran erinnern, dass einmal das „Jahr der Frau“ ausgerufen wurde. Bei uns zuhause sind, von meinem Mann eingeladen, einige führende Männer gesessen, Politiker, Industrielle, Wissenschaftler. Ich habe Kaffee serviert. Dann wurde gefragt, was machen wir zum Jahr der Frau. Darauf habe ich gesagt: Na vielleicht machen wir etwas zum Jahr der Frau, und habe natürlich die Frauen gemeint, die sich da durchsetzen könnten. Das wurde als schnippische Zwischenbemerkung abgelegt und nicht weiter in Diskussion gestellt.

PS

Sie sind bekanntlich erst spät, nämlich mit 80 Jahren, mit ihrem ersten Buch „Schwalbenschrift“ als Autorin in Erscheinung getreten. Das war im Jahr 2003. Wie blicken Sie von heute, also fast zwanzig Jahre danach, auf Ihre literarische Karriere?

IH

Das Literaturarchiv in St. Pölten, das meinen Vorlass hat, hat ein dickes Buch herausgebracht mit dem Titel „Ich möchte noch einmal irgendwo fremd sein“. Zu meiner großen Überraschung wurden darin sehr viele frühe literarische Texte von mir aufgenommen, teilweise Feuilletons, Rezensionen, ein oder zwei Erzählungen. Da wurde mir klar, dass ich eine weit zurückreichende literarische Vergangenheit habe. Ich hatte aber dann aufgehört zu schreiben. Ich habe zwar für die Radiosendung „Diagonal“ immer wieder Essays gemacht, aber für mich war in dieser Zeit die Familie im Mittelpunkt. Mir ist nichts abgegangen. Ich hab auch nicht heimlich für die Schublade geschrieben.

Ich habe ein Leben, das aus verschiedenen Teilen besteht. Ich laufe in dem Film mit der Unterschrift „Die Frau mit den vier Leben“, wobei die Autorenschaft erst das vierte Leben ist. Ich habe das als Reichtum empfunden. Ich hatte damals Freunde, mit denen ich mit sehr ausgetauscht habe, zum Beispiel im naturwissenschaftlichen Sektor. Ich war genährt, dort wo ich genährt sein wollte. Mich haben immer spirituelle Fragen sehr beschäftigt, ich habe mich sehr viel in philosophischer, theologischer Literatur umgeschaut. Schreiben ist vielleicht die wichtigste Seite an meiner Person, aber nicht die einzige.

PS

In dem Band „Vineta“ sind Texte von Ihnen zu lesen, die sich mit einem Wien auseinandersetzen, das es schon lange so nicht gibt. Wann ist in Ihnen der Entschluss gereift, darüber zu schreiben?

IH

Man weiß immer erst im nachhinein, was einem an einem Thema interessiert. Man springt ins Thema hinein und im nachhinein denkt man sich: Ah, deswegen mach ich das!  Mich hat interessiert, auf eine sehr wichtige, geschichtlich sehr umbruchsnahe Zeit zurückzuschauen, vor allem auf die 30er Jahre. Das war dann, zunächst zufällig, Wien, denn ich bin ja in Wien aufgewachsen. Dadurch, dass ich später aufs Land gezogen bin, hat Wien für mich eine Gestalt angenommen, aus der Entfernung. Wenn ich in Wien geblieben wäre, hätte ich vielleicht „Vineta“ nicht geschrieben. Aber von Schönberg aus war es eben ein Ort mit bestimmten gefühlsmäßigen Tönungen, Stimmungen, Tönen. Für mich hat Wien teilweise Schubert-Melodien, teilweise solche von Mahler. Wien bedeutet für mich also weniger Bilder als vielmehr eine musikalische Grundschwingung, die sehr verschieden sein kann. Der Karlsplatz hört sich für mich ganz anders an als in Grinzing die kleinen Gasserln, wo über die Planken noch der Flieder oder der Holler hängt. Wo so eine intime Sphäre ist, von irgendwoher hört man noch jemanden Klavier üben. Das ist eine ganz andere Welt.

IH

Ich kenne leider in Wien bestimmte große Bereiche und Bezirke nur von außen. Ich habe vor einiger Zeit die Seestadt in Aspern angeschaut, ich kenn die Spinnerin am Kreuz-Gegend zufällig ganz gut, ich versuche mir die Stadt in ihrer vollen Ausdehnung manchmal wieder nahezubringen. Wenn ich in Wien bin, bitte ich manchmal eines meiner Kinder oder einen Besucher, er soll mich in den 12. Bezirk führen oder so. Weil mich einfach dieses Flair interessiert, weil die Bezirke so verschieden sind. Ich habe durch die Arbeit für „Diagonal“ und für Wolfgang Kos (dem späteren Direktor des Wien Museums) übrigens ein Naheverhältnis zu Ihrem Museum. Ich kann mich aber nur an ein paar Sachen erinnern. An die originalen Plastiken aus dem Stephansdom, die dort herumstehen, an das Grillparzer-Zimmer. Und sonst an Kleinigkeiten, Glimpses, Augenblicke. Und dass es ein sehr angeräumtes Museum war. Das wird jetzt anders, nicht?

PS

Es wird ganz sicher anders, auch wenn die neue Dauerausstellung keinesfalls leer sein wird… Apropos Wien Museum: Wie klingt denn der Karlsplatz für Sie?

IH

Er klingt weitläufig. Innenstadt ist für mich z.B. die Sonnenfelsgasse, dort ist es eng. Der Karlsplatz klingt für mich sehr weit, mit einem Block: Das ist die Karlskirche. Rundherum ist allerdings keine offene verfließende Weite, sondern ein Kubus. Als ob die Luft am Karlsplatz stehen würde.

Hinweis

Im Wien Museum Magazin sind einige Texte von Ilse Helbich über Wien erschienen, z. T. aus dem Band Vineta, zum Teil Originalbeiträge. Ilse Helbichs erster Roman Schwalbenschrift ist im Libelle Verlag erschienen, alle weiteren Bücher im Droschl Verlag. Der im Gespräch erwähnte Band mit Texten von Helbich und Beiträgen über die Autorin ist in der Literaturedition Niederösterreich erschienen.

Ilse Helbich, geboren 1923 in Wien, promovierte in Germanistik, lebt im Kamptal. Sie arbeitete publizistisch u. a. zur Biografie Ludwig Wittgensteins und verfasste zahlreiche Radio-Collagen sowie (in den 70er Jahren) Kolumnen in der Presse. Ihr erster Roman Schwalbenschrift erschien 2003, danach publizierte sie 2004 die Erzählung Die alten Tage und 2007 Iststand. Sieben Erzählungen aus dem späten Leben. Es folgten die Prosabände Das Haus (2009), Fremde (2010), Grenzland Zwischenland (2012), die WIener Erinnerungsbilder Vineta (2013) und Schmelzungen (2015) sowie der Gedichtband Im Gehen (2017). 2018 wurde ihr der Würdigungspreis für Literatur des Landes Niederösterreich verliehen. 2020 erschienen unter dem Titel Diesseits Helbichs gesammelte Erzählungen. 2021 verfasste sie Gedankenspiele über die Gelassenheit. Im Frühjahr 2022 wird ihr letztes Buch, Anderswohin, erscheinen. 

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

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