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Ilse Helbichs Wien der Zwischenkriegszeit – Teil 5
Spucknapf, Zigarrenrauch
Auf Spucknäpfe stößt das Mädchen immer wieder. Sie stehen in Wartezimmern, auf Bahnhöfen, in Geschäftsecken, in Arztordinationen, und über ihnen hängt meist ein Schild, »Freies Ausspucken verboten!«
Der Spucknapf ist eine durchaus männliche Angelegenheit. Das Kind schaut zu, wie die Männer durch heftige Mundbewegungen den Schleim im Mund sammeln und dann das hochgewürgte Zeug mit voller Kraft in den bereit stehenden Napf befördern.
Sie beobachtet mit Grausen und doch fasziniert die unfehlbare Treffsicherheit, die sich diese Spuck-Akrobaten durch langes Üben erworben haben.
Wahrscheinlich haben diese Männer viel auszuspeien, weil soviel geraucht wird – kleine Pfeifen, Tschibuks und langstielige Pfeifen, die Virginia, eine zwei Finger lange, dünne Art von Zigarre, richtige Zigarren, solche, die Trabucco heißen oder Regalia Media und wunderschöne bunte papierene Bauchbinden haben – und manchmal auch Zigaretten. Das Mädchen beobachtet mit Vergnügen, wie das hauchdünne Zigarettenpapier mit spitzen Fingern aus dem Samum-Heftchen gezogen, der Tabak aus der Zigarettendose daraufgestreut, das Papier eingedreht und noch energischer zusammengewuzelt wird, und dann mit einer einzigen raschen Bewegung kommt die Zungenspitze zum Einsatz, der Papierrand wird abgeleckt, zusammengeklebt und fertig!
In dieser Kunst sind auch die eleganten Damen Meisterinnen.
Beim Tee öffnen sie ihre Handtäschchen und greifen nach ihren Tabatièren. Das Mädchen ist immer wieder entzückt über diese Schmuckstücke von Zigarettendosen, auf deren emaillierten Deckeln zarte Rosengirlanden oder Stiefmütterchen leuchten – gerade so wie auf den Puderdöschen.
Nie würden es jedoch die jungen Frauen, ihre Mutter und die beiden Tanten wagen, unter den Augen der Großeltern ihre Tabatièren aus der Tasche zu ziehen, um sich eine »Dames« anzuzünden, wie es ihre Mutter daheim beim Mokka immer tut.
Nach dem wie ein Gesetz eingehaltenen Familienessen am Donnerstagabend sitzen die Frauen in blaue Rauchschwaden gehüllt starr und stumm am abgeräumten Esstisch neben ihren genüsslich Zigarre rauchenden Ehemännern, die vom Geschäft und der Jagd reden.
Die stillen Kinder am unteren Tischende hören von Böcken, die auf achtzig Schritt verfehlt wurden oder gar abgesprungen sind, von guten Schüssen und vielversprechenden Gablern.
Für alle Fälle steht ein eleganter Spucknapf auch hinter der Flügeltür nebenan im »Salon« und bleibt immer unbeachtet – weder Vater noch Onkel käme je auf die Idee, ihn zu benützen; der steht einfach dort, weil es sich so gehört.
Ein solches Utensil wäre ihren Eltern nie ins Haus gekommen – es ist in ihren Augen nicht mehr modern.
Der Text stammt aus dem Buch „Vineta“ von Ilse Helbich, das 2013 im Literaturverlag Droschl erschienen ist. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Vier weitere Texte daraus sind bereits erschienen: Eislaufplatz, Gassenbuben, Waschtag und Eismann.
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