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In memoriam Evelyn Brezina
„Instagram hat mir ein Fenster zur Welt geöffnet“
Unterwegs im eigenen Grätzl
Kennengelernt habe ich Evelyn über ein Foto vom Margaretenhof, das aus der Bilderflut auf Instagram herausgestochen ist. Erst beim zweiten Blick auf den Account-Namen @vienna_wheelchair_view wurde klar, dass sich die ungewöhnliche Perspektive aus dem Rollstuhl ergab. Eine Wien-Bloggerin im Rollstuhl? Ich war neugierig und folgte ihr, Evelyn folgte zurück, wir beobachteten uns gegenseitig, kommentierten und schickten Nachrichten.
Evelyns Foto vom Margeretenhof wurde zu einem der erfolgreichsten Beiträge in der Feature-Reihe #wienamsonntag, die Anna Attems (Kunstfüruns) für das Wien Museum ins Leben gerufen hat. Das war der Beginn einer Zusammenarbeit, die uns zwei Jahre später bei einer gemeinsamen Stadterkundung auch real zum Margaretenhof führte: Unweit ihrer Wohnung war er das Herzstück „ihres“ Grätzls.
Von der Fotografin zur Influencerin
Die Leidenschaft fürs Fotografieren hatte Evelyn seit ihrer Kindheit, inspiriert und ermutigt durch ihren Vater. Als ich sie kennengelernt habe, war eine normale Kamera bereits zu schwer für sie und das Smartphone der perfekte Ersatz.
„Instagram hat mir ein Fenster zur Welt geöffnet“, sagte Evelyn einmal zu mir. „Hello Instagram“ schrieb sie am 20. September 2018. Zunächst postete sie Wien-Bilder von ihren Ausflügen in die Stadt, mit sichtbarer Liebe zu Farbe und Blumen. Auf die Nachfrage von anderen Instagramer:innen aus der Community trat sie schließlich selbst vor die Kamera und zeigte ihren von den vielen Knochenbrüchen verformten, kleinen Körper. Für diesen mutigen Schritt erntete sie großen Zuspruch und noch mehr Interesse. Von da an berichtete sie regelmäßig über ihr Leben mit „Glasknochen" und 24-Stunden-Hilfe, ihren eingeschränkten Bewegungsradius, die Abhängigkeit von Schönwetter, unbenutzbare Rampen, oder schlichtweg tägliche Routinen wie Zähneputzen. Sie feierte die liebevoll gestrickten, bunten Pullover ihrer Mutter und jeden warmen Sonnenstrahl. Nur ihre Schmerzen behielt sie meist für sich, sie blieb ein paar Tage ruhig und meldete sich erst danach mit einem Update.
Das Außergewöhnliche im Alltäglichen
Längeres Sitzen war für Evelyn eine körperliche Anstrengung, daher beschränkten sich ihre Ausflüge auf zwei Stunden. Was sich innerhalb dieser Zeit gut erreichen ließ, wurde stets fotografisch dokumentiert: die Wiener Innenstadt, der Karlsplatz und ihr eigenes Grätzl Margareten. Das Außergewöhnliche im Alltäglichen zu entdecken, war ihr Motto und andere Menschen damit zu begeistern und vielleicht auch anzustecken, ihr erklärtes Ziel.
Was mir in Erinnerung bleiben wird, ist ihr herzliches, breites Lachen und ihr lockeres, freches Mundwerk. Nur einmal habe ich sie kurz sprachlos erlebt: Als sie eines ihrer Fotos ganzseitig gedruckt im Katalog zur Ausstellung „Augenblick – Straßenfotografie in Wien“ sah, wo neben historischen Aufnahmen auch die aktuelle Wiener Szene auf Instagram vorgestellt wird. Sie konnte nicht glauben, dass ihre Aufnahmen im Museum gezeigt werden. Evelyn hatte ein gutes Auge für lustige Szenen, bei denen Menschen im Stadtraum ungewollt zu den Hauptdarstellenden wurden. Um niemanden bloßzustellen, teilte sie diese Bilder erst nach strenger Auswahl und meist nur auf ihrem privaten Account @evelyn_brezina.
Eine weitere Zusammenarbeit mit dem Wien Museum ergab sich 2023 im Rahmen der Ausstellung „Großstadt im Kleinformat. Die Wiener Ansichtskarte“. Wir wollten zeigen, wie Social Media und Messenger-Dienste die Funktionen der klassischen Ansichtskarten übernommen haben. Dafür entwickelte ich gemeinsam mit der Dramaturgin Ines Häufler ein WhatsApp-Kino auf vier Screens. Die Fotos dafür kamen alle aus Evelyn Brezinas reichhaltigem Archiv. Das beeinflusste wiederum unsere fiktive Geschichte, in der eine Frau im Rollstuhl mit ihrer Pflegerin auf Wien-Besuch fährt, und für die uns Evelyn mit wichtigen Informationen versorgte.
Als Influencerin im Rollstuhl war Evelyn international bekannt und auf mehreren Kanälen aktiv (TikTok @brittlebonesevi). Ihre Fangemeinde wuchs allein auf Instagram auf 7.000 Follower, mehr als 600 Beileidsbekundungen finden sich unter der Nachricht zu ihrem Tod. Noch sind ihre Accounts online. Ihre Lebensgeschichte erzählte sie nicht nur digital, sondern auch in ihrer Autobiografie „Zerbrichmeinnicht und Löwenzahn“.
Sie wurde als Sprecherin in die UNO eingeladen, machte sich für eine faire Bezahlung der 24-Stunden-Betreuung stark und war für viele Wiener Museen eine wichtige Ansprechpartnerin in Sachen Barrierefreiheit. Sie machte Beiträge für das Kunsthistorische Museum, das Weltmuseum, die Wagenburg und das Museumsquartier. Letzten Mai überraschte sie mich spontan nach unserer Übersiedlung auf der Baustelle und war begeistert vom neuen Gebäude, ein Besuch im fertigen Wien Museum ging sich leider nicht mehr aus.
Aus aktuellem Anlass wiederholt Ö1 am 16. März um 9:05 Uhr das preisgekrönte Porträt „Evelyn Brezinas Leben mit Glasknochen. Eine Hommage.“
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Kommentare
Sehr geehrte Frau Koblitz,
es tat mir leid, auf grund Ihres Beitrages zu erfahren, dass Frau Brezina gestorben ist. Ih hab sie durch Ö1 kennengelernt und war beeindruckt von ihrer Einstellung und Stärke.
Das sie quasi in meiner Nachbarschaft unterwegs war hat mich doppelt berührt. Ihre Stadtfotos sind wunderbare Blietzlichter von Stimmungen, Situationen und Beobachtungen. Da hab ich mich auch wiedergefunden - ich mach das auch sehr gerne.
Sie können gerne mal "mitgehen"... https://hannatiechl.at/?p=11842. Vielleicht ergibt sich zu Ostern die Gelegenheit, Ihrer Mutter einen schönen Gruss von mir auszurichten und ihr meine Homepage zu zeigen. Es könnte sie freuen. Frohe Ostern und danke für den Beitrag. Liebe Grüße, Hanna Tiechl
Vielen Dank für diesen schönen Nachruf. Ich habe ihre Fotos sehr gemocht und habe sie stets bewundert. Ihr schönes Lachen wird mir abgehen aber ich hoffe, dass sie jetzt von oben eine andere gute Perspektive hat.
Claudia