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Andreas Brunner und Andrea Ruscher, 12.6.2025

QWIEN eröffnet neu

Lesbische Liebe am Kaprizpolster

Wer über queere Geschichte schreibt, begibt sich in eine Kampfzone. Nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Quellenlage. Das weiß Andreas Brunner, wissenschaftlicher Leiter von QWIEN. Im Interview berichtet er, was sich nach dem Umzug und der Neueröffnung bei QWIEN verändert hat und welche „unglaublichen“ Objekte in der ersten Ausstellung zu sehen sind. 

Andrea Ruscher

Zuletzt war ich 2023 bei euch auf Besuch, damals noch im vierten Bezirk. Gestern hat QWIEN in der Ramperstorffergasse neu eröffnet – und damit auch eure erste Ausstellung. Was zeigt ihr?

Andreas Brunner

Immer wieder haben uns Leute gefragt, ob wir nicht endlich mal eine Dauerausstellung zur queeren Geschichte Wiens machen wollen. Und wir haben immer wieder geantwortet: „Ja womit denn?! Wir haben ja kaum etwas, außer ein paar Zetteln.“ Queere Geschichte ist sehr schlecht überliefert, es gibt wenig erhaltene Quellen oder Objekte. Und so sind wir auf die Idee gekommen, in unserer ersten Ausstellung queere Geschichte vom Mittelalter bis in die Nachkriegszeit anders zu erzählen – nämlich mit erfundenen Objekten! Die Ausstellung, die daraus entstanden ist, heißt „Geschichte machen. Ein queeres Jahrtausend in 27 unglaublichen Objekten“.

AR

Erzählt ihr uns also Märchen oder gibt es eine historische Basis für die Ausstellung?

AB

Die Geschichten hinter den 27 Objekten sind alle recherchiert und historisch belegt. Das hier ist zum Beispiel der Hut von Johann Carl Smirsch. Er war Anfang des 19. Jahrhunderts Mitglied der sogenannten Unsinnsgesellschaft, einer Künstler:innen-Gemeinschaft, der unter anderem auch Franz Schubert nahe stand. Dort ist Smirsch immer als Frau aufgetreten. Er verwendete das Pseudonym Nina Wutzerl und trug Frauenkostüme. Und seinen Hut stellen wir jetzt aus!

AR

Wie habt ihr diesen Hut angefertigt?

AR

Eine historische Zeichnung von dem Hut ist erhalten und anhand derer hat eine Wiener Restauratorin und Hutmacherin das Objekt reanimiert.

AR

Für eine historische Person festzumachen, ob sie trans, schwul, oder queer in welcher Weise auch immer war, ist methodisch keine einfache Angelegenheit und teils auch Interpretationssache. Wie gehst du damit in deiner Forschung um?

AB

Über die sexuelle Identität des Herrn Smirsch weiß ich faktisch nichts, ich kenne nur Indizien. Er war unverheiratet. Das bedeutet im frühen 19. Jahrhundert auch nicht unbedingt viel, er hat sich eine Ehe vielleicht einfach nicht leisten können. Mehrere Beschreibungen von Zeitgenossen sprechen dafür, dass er heute als queer bezeichnet werden würde, entweder als non-binary oder als weiblich auftretender, schwuler Mann. Aber so nennen wir ihn in der Forschung nicht. Wir stellen ihn in sein Umfeld, wir erzählen die Geschichten, die ihn jenseits heteronormativer Vorstellungen zeigen – und weiter gehen wir nicht. Mit Identitätszuschreibungen sind wir bei QWIEN grundsätzlich vorsichtig. Wir arbeiten mit dem Sammelbegriff „queer“, weil der sehr viele Identitäten und Lebensmöglichkeiten außerhalb der Heteronormativität zulässt. 

AR

Wenn Forschung vor allem auf Indizien basiert, ist man da nicht sehr angreifbar?

AB

Nehmen wir ein anderes Beispiel, den Fall der Christina von Schweden – das ist eine Kampfzone! Alle sprechen sich Interpretationshoheit zu. Aber sehen wir uns die Indizien an, ohne mit Labels um uns zu werfen: Sie führte Beziehungen zu Frauen und Männern. Als sie 1654 als Königin abdankte und Schweden verlies, legte sie ihre Frauenkleider ab. Man könnte sagen, sie hat sich aus einer Rolle befreit und ist in ihre wahre Identität geschlüpft. Sie scheint ein männlich konnotiertes Auftreten bevorzugt zu haben. Ich würde sie aber nicht bisexuell oder lesbisch nennen – das sind Worte, die in ihrer heutigen Bedeutung weit weg von dem liegen, was sich Christina in ihrer Zeit überhaupt vorstellen konnte. 

AR

Kommt Christina von Schweden auch in der Ausstellung vor?

AB

Von Christina findet sich ein Gedichtband mit persönlicher Widmung in der Ausstellung. Sie war sehr belesen, hat viele Sprachen gesprochen. Von Schweden reiste sie über Brüssel nach Innsbruck. Dort sorgte sie für Aufsehen, weil sie öffentlich zum Katholizismus konvertierte. Soweit die Fakten. Da Christina gerne antike Autor:innen las, lassen wir sie eine Ausgabe mit Catulls Liebesgedichten, die zwei Jahre davor erschien, an ihre langjährige Geliebte, die Hofdame Ebba Sparre, die sie Bella nannte, nach Schweden schicken. Das Buch ist tatsächlich aus der Zeit – die Widmung gefälscht!

AR

Findet sich unter den 27 Geschichten auch eine Wienerische?

AB

Da ist zum Beispiel die Geschichte eines lesbischen Paares um 1915. Eine Quelle ihrer Beziehung ist eine Postkarte mit einem Liebesschwur. Leider ist ihre Geschichte nicht gut ausgegangen, weil die Mutter der einen Frau die andere angezeigt hat und es zu einer Verhandlung gekommen ist. Durch die Gerichtsakten kennen wir diesen Fall heute überhaupt erst. Obwohl es kein Happy End für das Paar gegeben hat, wollten wir ein schönes Objekt für ihre Geschichte gestalten. Wir haben den Liebesschwur so herzig gefunden und ich persönlich bin ein Liebhaber von Kaprizpolstern. Alleine das Wort „Kaprizpolsterl“ oder „Kaprizerl“ ist so etwas herrlich Wienerisches! Die Stickkünstlerin Anja Melzer hat für uns so ein Pölsterchen mit der historischen Liebesbotschaft bestickt. 

AR

Jetzt möchte ich noch kurz in die weitentfernte Vergangenheit springen: Welche queere Geschichte aus dem Mittelalter konntet ihr ausgraben?

AB

Es gibt eine Geschichte von Ludwig IV. „dem Bayern“, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches ab 1328, und Friedrich III. „dem Schönen“, Herzog von Österreich und Steiermark. Friedrich ist als Pfand in einer kriegerischen Auseinandersetzung an den bayrischen Hof gekommen. Für die beiden war das wohl ein Glücksfall. In mittelalterlichen Quellen kann man lesen, dass Ludwig und Friedrich am Münchner Hof in der Folge „wie ein Ehepaar“ zusammengelebt haben, dass sie Tisch und Bett miteinander geteilt haben. Und dass sie sogar einen gemeinsamen Siegelring besessen hätten. Der ist allerdings verschollen… bis heute. Hier ist er!

AR

QWIEN ist weiterhin vor allem auch Forschungszentrum, Bibliothek und Archiv – mit fast 900 Quadratmetern auf drei Etagen jetzt auch auf viel größerer Fläche als zuvor. Hast du das Gefühl, queere Geschichte ist im Mainstream angekommen?

AB

Manchmal, speziell rund um die Pride, hat man das Gefühl, überall wehen die Regenbogenfahnen und alles ist jetzt queer-friendly. Aber wir sehen ja, dass es zur Gegenbewegung nur ein kurzer Weg ist – geographisch zur ungarischen oder slowakischen Grenze zum Beispiel. Also Mainstream sind wir sicher nicht. Aber im akademischen Bereich hat eine gewisse Verfestigung stattgefunden. Dort ist mittlerweile eine Generation junger Wissenschaftler:innen am Werk, die sich diese Themen nicht mehr wegnehmen lässt. Als ich in den 1980er Jahren Germanistik studiert habe, war es quasi undenkbar zu Homosexualität in der Literatur zu schreiben. Niemand wollte so eine Abschlussarbeit betreuen. „Das interessiert keinen“, war der Konsens am Institut.

AR

An der großen Zahl an Menschen, die zum Forschen zu euch kommen, eure Bücher und Berichte lesen, oder queere Stadtführungen buchen, merkt man, es interessiert und berührt ja doch sehr viele... Überlegt ihr eure Sammlung oder Teile davon auch zu digitalisieren und für den Zugriff aus der Ferne zur Verfügung zu stellen?

AB

Die gesamte Bücher- und Zeitschriftensammlung ist online durchsuchbar. Beim Archiv ist es noch etwas schwieriger, weil es noch nicht tiefenerfasst ist – die Erstellung von einem umfassenden Findbuch ist einer der nächsten großen Schritte. Aktuell gibt es eine Vorordnung. Auf Basis derer muss man Boxen durchschauen und etwas Glück haben, das zu finden, was man gerade sucht. Manche Archivalien sind aufgrund von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten allerdings noch gesperrt, Forschende können darauf gar nicht zugreifen. Es ist uns grundsätzlich ein Anliegen, die Privatsphäre von Personen schützen, darum hat die Digitalisierung des Archivs aktuell keine Priorität. In vielen der Quellen, die wir gesammelt haben, geht es um ganz intime Dinge: um Emotion, um Begehren, Lust, oder Liebe. In historischen Gerichtsakten werden Menschen beispielsweise unter Zwang und Gewaltanwendung über ihr Sexualleben befragt. Das mag in einem wissenschaftlichen Zusammenhang wichtig sein, aber es hat in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Ich beschreibe in meinen eigenen Forschungstexten auch nie sexuelle Handlungen, außer es ist für das Verständnis einer Geschichte unablässig. Ich übe lieber Zensur, als Menschen bloß zu stellen. 

AR

Eine Frage zum Abschluss: Ist euch der Abschied aus dem vierten Bezirk schwer gefallen?

AB

Wir waren über 23 Jahre in der Großen Neugasse und dort im Grätzl sehr integriert. Im Sommer haben wir draußen am Gehsteig unsere Klappsessel gehabt, wir waren mit der Nachbarschaft immer im Kontakt. Auch wenn ich jetzt an der Ecke vorbeikomme, treffe ich noch viele bekannte Gesichter und höre: „Ah ihr geht uns so ab, schade, dass ihr nicht mehr da seid!“. Und jetzt sind wir hier oben im ersten Stock und kriegen viel weniger von draußen mit. – Dafür kommen aber umso mehr Menschen zu uns! Und wir haben draußen vor dem Eingang ein Parklet aufgestellt, das hoffentlich viel Raum für Gespräche und Austausch bietet.

Hinweise:

Die Ausstellung „Geschichte machen. Ein queeres Jahrtausend in 27 unglaublichen Objekten“ ist bis zum 9. November 2025 bei QWIEN, in der Ramperstorffergasse 39, zu sehen.

Am 18. Juni eröffnet zusätzlich die Foto-Ausstellung „Hom(o)e Diaries“ von Sabine Schwaighofer. Sie zeigt ihre fotografische Dokumentation der queeren Community Wiens in den vergangenen 30 Jahren. Die Ausstellung ist bis zum 28. September 2025, ebenfalls in der Ramperstorffergasse 39, zu sehen. 

Eine gemeinsame Publikation von Andreas Brunner und dem Wien Museum „Als homosexuell verfolgt. Wiener Biografien aus der NS-Zeit“ ist 2023 im Mandelbaum Verlag erschienen und unter anderem im Shop des Wien Museums erhältlich.

Andreas Brunner, Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik, daneben auch als Möbelrestaurator, Filmproduzent, Kellner, Koch, Buchhändler oder Literaturagent tätig. Seit Ende der 1980er-Jahre in der Wiener Schwulen- und Lesbenbewegung engagiert, in der Rosa Lila Villa, Mitarbeiter der ersten schwulen Buchhandlung „Löwenherz“, Gründung der Regenbogen Parade, Ko-Kurator der Ausstellung „geheimsache:leben. schwule und lesben im wien des 20. Jahrhunderts“ (2005) und von „Sex in Wien. Lust. Kontrolle. Ungehorsam“ (2016), Ko-Leiter von QWIEN - Zentrum für queere Geschichte, Forschungen und Publikationen zur schwul/lesbischen Stadtgeschichte, Entwicklung schwul/lesbischer Stadtführungen, Aufbau eines Archivs für die Geschichte von LGBTI* in Wien.

Andrea Ruscher ist Teil der Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum. Sie studierte Globalgeschichte und war zuvor am Österreichischen Kulturforum Kairo und in der C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik tätig. 

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