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Peter Stephan Jungk, 6.5.2025

Wiener Zeitfenster – Erinnerungen an das Hochhaus Herrengasse

„Liebe, Leid und Lust!“

Der Schriftsteller und Filmemacher Peter Stephan Jungk hat zweimal längere Zeit in Wien gelebt und ist hier regelmäßig zu Besuch. In einer losen Serie von Beiträgen erinnert er sich an biografisch-historische Wiener Zeitfenster. Dieses Mal geht´s um das Hochhaus Herrengasse und seine illustren Bewohner und Bewohnerinnen.

Zu Beginn der 1980er Jahre nahm ich meine intensiven Recherchen zur Lebensgeschichte Franz Werfels auf, einem Werk, das 1987 im S. Fischer Verlag erscheinen sollte. Um das Wiener Umfeld des Dichters, Romanciers und Dramatikers besser zu erfassen, durchquerte ich in jener Zeit die dunkle, schmale Herrengasse mit einer neuen, weit größeren Aufmerksamkeit, als je zuvor. Die Gasse schien sich seit den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wenig verändert zu haben, bildete ich mir ein. Wenn es auch die beiden berühmten Cafés der Zwischenkriegszeit in ihrer alten Form nicht mehr gab: Das ‚Central‘ und das ‚Herrenhof‘. Das großzügige ‚Herrenhof‘, von einem gelben Glasdach einst dumpf erhellt, war Werfels Lieblingsort, wenn er sich in Wien aufhielt, sieht man von Alma Mahlers Wohnung in der Elisabethstraße und der später bezogenen Prunkvilla des Ehepaares auf der Hohen Warte ab. In seinem Stammcafé traf er nahezu täglich mit Schriftstellerkollegen zusammen, darunter Franz Blei, Alfred Polgar, Hermann Broch, Joseph Roth. Auch den engen Prager Jugendfreund Ernst Polak, der mit Franz Kafkas großer Liebe Milena Jesenská verheiratet war, sah er hier. Halbtags als Devisenhändler bei der Österreichischen Staatsbank beschäftigt, verbrachte Polak seine übrige Zeit im ‚Herrenhof‘. 

Nach 1938 und dem Anschluss an das Deutsche Reich blieb von diesem historisch so bedeutsamen Ort nicht mehr viel übrig: Bloß ein mit Plexiglas und Plastik ausstaffiertes kleines Espresso. Trotzdem versuchte ich, mich in der Herrengasse in Werfels damaliges Lebensgefühl zu versetzen, wobei mein Blick jedes Mal auch auf das 1932 fertiggestellte Hochhaus fiel. Es lag nur wenige Schritte vom Herrenhof entfernt, Werfel muss ab 1931 jedes Mal, bevor er das Café betrat und nachdem er es verließ, den Fortschritt der Bauarbeiten, zunächst das Ausheben der tiefen Baugrube, und dann Stockwerk für Stockwerk, miterlebt haben. Vielleicht schritt er nicht selten die Länge der Baustelle ab, die beinahe bis zum Michaelerplatz führte, schließt das Hochhaus doch unmittelbar an das zwanzig Jahre zuvor fertiggestellte Loos-Haus an.

Ich sprach damals mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, darunter Lou Eisler-Fischer, Hilde Spiel und Milan Dubrovic, sie alle erinnerten sich gut an die Jahre, als das Hochhaus errichtet wurde. Man wusste damals, dass die Architekten Siegfried Theiss und Hans Jaksch – beide traten übrigens sehr bald nach dem Anschluss der NSDAP bei - darauf achteten, in ihrer Bauweise die Gebäude in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht zu übertrumpfen. In einer Publikation des Wien Museums heißt es dazu: “In der Herrengasse selbst ist das Hochhaus in seiner Höhenerstreckung nicht wahrnehmbar. Durch die Abtreppung des Turms erscheint es an keinem Punkt höher als die umgebende Bebauung. (…) So wurden schon in der ersten Planungsphase fotogrammetische Stadtansichten angefertigt, die zeigen sollten, von wo aus das Hochhaus sichtbar sein würde.” 

Das Gebäude löste auch eine persönliche Erinnerung aus, die mit den Vorarbeiten an der Werfel-Biografie nicht in Zusammenhang stand. Ende der 1970er Jahre hatte sich das Roma-Mädchen Monika Krenner aus ihrer kleinen Hochhaus-Wohnung in der elften Etage in die Tiefe gestürzt. Ich kannte sie recht gut, in der Zeit, als sie für den Cirkus Roncalli als Nummerngirl auftrat und allabendlich mit Messern auf sie geworfen wurde. Zwei meiner Freunde waren unsterblich in sie verliebt. Der eine beging bereits 1974 Selbstmord, nicht nur, aber definitiv auch weil er Monika nicht an sich binden konnte. Der andere, ein österreichischer, seit Jahrzehnten in Paris beheimateter bildender Künstler, spricht bis heute von ihr als von einer der wundersamsten Erscheinungen, denen er je begegnet ist. André Heller, dessen Geliebte Monika am Ende ihres Lebens war, hat sich von dem Schock ihres Todes lange nicht erholt: „Nach Monikas Selbstmord war nie mehr irgendetwas wie vorher. Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis ich wieder halbwegs aufrecht gehen konnte.”

Während ich an der Werfel-Biografie zu arbeiten begann, nicht selten von Franz und Alma träumte, sie überraschend deutlich vor mir sah, begann mich ein neuer Lebensumstand noch weit enger an die Herrengasse und das Hochhaus zu binden. Meine damalige Freundin übersiedelte in jenen Jahren in eine Garçonnière im sechsten Stockwerk des Gebäudes, in das ehemalige Import-Export-Büro ihres bereits 1964 verstorbenen Vaters. Sie  wohnte auf Stiege 2, als Nachbarin ihrer Mutter, deren Wohnung um einiges größer war. Ich lernte den ersten Wiener Skyscraper mit seinen 225 Wohneinheiten – die meisten davon Mietwohnungen - nunmehr von innen ein wenig näher kennen. Schritt über einen der beiden Höfe, vorbei an zahlreichen Garagen, um meine Freundin zu besuchen. Musste dabei jedes Mal an einem der Portiere vorbei, die das Gebäude rund um die Uhr bewachten, vergleichbar New Yorker doormen. Ich glaube, es war das einzige Wohnhaus der Stadt, in dem es diese Türhüter damals gegeben hat. Einer von ihnen war mein Komplize, wenn die Freundin nicht zuhause war und ich Nachrichten für sie - lange vor dem Auftauchen von Handys – in seiner Obhut hinterließ. Sein Augenzwinkern bleibt mir unvergesslich.

Das Hochhaus wirkte auf mich wie eine Insel in der Innenstadt, oder auch wie ein überdimensionaler Ozeandampfer. Kein Wunder, dass dieser Bau, ein Labyrinth geradezu, Prestige besaß: Hier zu wohnen galt als vornehm. Zahlreiche Film- und Theaterschauspieler und -schauspielerinnen lebten hier, aber auch prominente Journalisten, Schriftsteller, Architekten. Je höher man kletterte, desto beeindruckender die Blicke aus riesigen Fensterfronten auf die Stadt. Ich besuchte auf Stiege 1 die obersten Etagen, wo Jahrzehnte, bevor meine Liebste hier lebte, ein Café-Restaurant existierte. Eine Kuppel ließ sich elektrisch öffnen, im sechzehnten Stock, gab für die abendlichen Gäste, während sie tanzten, den Sternenhimmel frei. Doch das Nobellokal war längst in mehrere großzügige Wohnsuiten verwandelt worden.

Die Freundin hatte in ihrer Kindheit schon einmal eine Zeit lang hier gelebt. Sie erinnerte sich, an sechs Tagen in der Woche im Morgengrauen das Klappern von Pferdehufen vernommen zu haben. Die Milchflaschen wurden noch mit Pferdewagen in die Filiale einer Molkerei in der Wallnerstraße ausgeliefert. Der Lärm, den blutjunge Postbeamte früh morgens machten, wenn sie die Postsäcke für das ganze Hochhaus in Empfang nahmen, störte sie nicht. Manchmal konnte sie sie von oben beobachten. Das große Postamt befand sich an der Schmalseite des Hochhauses, Ecke Fahnengasse und Wallnerstraße, an der Stelle, an der seit 1991 der Ein- und Ausgang zur U3-Station Herrengasse liegt. Ein Hochglanzgeschäft für schwedische Elektroautomobile zog vor etlichen Jahren in das ehemalige ‚Postamt 1014 Wien’ ein.  

Nach Abschluss der Recherchearbeit, während der jahrelangen Niederschrift von Werfels Lebensgeschichte, hielt ich mich zum Teil fern aller Großstadt-Ablenkungen auf – einsam im Waldviertel. Ahmte den Dichter nach, den Alma regelmäßig aus der Stadt in ihr Haus Mahler in Breitenstein am Semmering verbannt hatte. Bis zur Flucht 1938 waren dort die meisten seiner Werke entstanden. 

Meine Freundin lebte nicht mehr im Hochhaus, als ihre Mutter starb. Sie hatte aber ihre einstige Bleibe behalten, jetzt bemühte sie sich, für beide Wohnungen, in die ihre Familie kurz nach Kriegsende eingezogen war, eine Ablöse zu bekommen. In der Wartezeit untervermietete sie, womöglich unerlaubt, die kleine Garçonnière an die bekannte, damals am Burgtheater engagierte deutsche Schaupielerin Anne Bennent. Ich begleitete die Gefährtin eines Tages ins Hochhaus, in der ehemaligen Wohnung ihrer Mutter war noch Porzellangeschirr in einer Kiste verstaut, die wir jetzt abholen wollten. Wir sperrten Tür 23 auf und erschraken im ersten Moment: Die Wohnung war bewohnt. Schlugen die Tür wieder zu. Warteten einen Moment, läuteten an. Es öffnete ein junger Mann, den ich sofort erkannte: David Bennent, der Bruder von Anne, berühmt seit seiner Rolle als Oskar Matzerath in Volker Schlöndorffs Verfilmung der ‘Blechtrommel’ von Günther Grass. Ich hatte ihn ein paar Wochen zuvor als Caliban in Peter Brooks’ Pariser ‘Sturm’-Inszenierung gesehen. David zitterte am ganzen Körper, als er uns erblickte. Anne tauchte hinter ihm auf, wir wurden eingelassen. Das geräumige Logis war in einen theaterähnlichen Zauberort verwandelt worden, halb Kostümfundus, halb Kulisse für Franz Wedekinds ‘Frühlingserwachen’, das Stück sollte demnächst an der Burg Première haben. Tücher, brennende Kerzen, Spitzenvorhänge, Schminktischchen und Spiegel überall, mehrere Betten auf die Zimmer verteilt. In den Lampenschirmen steckten Blumensträuße. Ein großer Steiff-Affe saß auf einem Klavier. Die seit Jahrzehnten nicht ausgemalten Wände waren mit Parolen rot beschrieben: „Wir musizieren und probieren viel!“, oder: „Liebe, Leid und Lust!“, und ähnlichen Sprüchen mehr.

Wir lobten die Geschwister, wie wunderbar lebendig die ehemalige Wohnung nunmehr geworden war, wobei ich meine Begeisterung sogar maßos übertrieb, um den immer noch schlotternden David zu beruhigen. Ein hochgewachsener Mann trat ein, Schauspieler auch er, von Anne Bennent als „Mitarbeiter“ bezeichnet, er wohnte offenbar ebenfalls hier. Anne erklärte uns, das Schwarzwohnen mache ihr Spaß, sie liebe es, in Wohnungen zu leben, in denen die Mietverhältnisse etwas unklar seien: „Es bereitet mir die größte Genugtuung, aus leeren oder desolaten Wohnungen ein Zuhause zu zaubern.“ Aber sie könne gerne alles sofort wieder zusammenpacken und innerhalb kürzester Zeit spurlos verschwinden. Wir bekamen Kaffee, serviert in den schönen Porzellantassen aus dem Nachlass der Mutter meiner Freundin. Machten Smalltalk, wir fünf, wobei Anne allerdings in erster Linie mit ihrem „Mitarbeiter“ Details eines Workshops besprach, den sie beide am Burgtheater planten. Als wenig später dann auch noch zwei weitere Herren auftauchten, die hier „zu Gast“ waren, von denen sich der eine gleich ans Klavier setzte, wo er laut und gut Gershwin spielte, konnte es keinen Zweifel mehr geben: Die ehemalige Hochhaus-Wohnung, Türnummer 23, war in eine Theater-Kommune verwandelt worden. Zum Abschied versicherte Frau Bennent, sie werde ihren Gästen ab sofort mitteilen, hier nicht weiter verbleiben zu dürfen. Darüber hinaus wolle sie selber die Konsequenzen ziehen und innerhalb der nächsten Tage auch aus der Einzimmerwohnung nebenan ausziehen. 

Vor wenigen Wochen spazierte ich durch die Herrengasse, vorbei am Palais Wilczek, seit 1961 Sitz der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, vorbei am disneylandähnlichen Touristentreffpunkt Café Central. Das große, im klassizistischen Stil gehaltene Gebäude, in dem das ‘Herrenhof’ einst seinen Platz hatte – es beherbergte übrigens auch die Reformschule von Eugenie Schwarzwald - wurde zuletzt in ein Luxushotel verwandelt, das ‘Steigenberger Hotel Herrenhof’ befindet sich in chinesischem Besitz. Unter einer Glaskuppel soll es dort auch ein neues ‘Café Herrenhof’ geben, ich habe es nicht aufgesucht. 

Zum ersten Mal seit über dreißig Jahren betrat ich das Foyer des Hochhauses. Der gegenwärtige Portier, ein Mann in mittlerem Alter, fragte sofort, wonach ich suchte. Ich sei Schriftsteller, erklärte ich ihm, hätte einst hier gelebt, wollte Erinnerungen nachhängen, den Aufgang zur Stiege 2 „aus sentimentalen Gründen“, wie ich sagte, wiedersehen. Er schüttelte energisch den Kopf. Und entgegnete: „Das spielt keine Rolle.“ 

Peter Stephan Jungk ist Autor von Romanen, Biografien und Drehbüchern, Übersetzer von Theaterstücken sowie Regisseur von Dokumentarfilmen. Zuletzt erschien bei S. Fischer sein Buch Marktgeflüster – Eine verborgene Heimat in Paris“www.peterstephanjungk.com ​​​​​​​

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