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Die Erweiterung der Ansichtskarte durch grafische Gestaltungsmöglichkeiten
Ganz schön komplex
„Die Ansichtspostkarten […] sehen in der ganzen Welt einander ähnlich. Sie sind koloriert; die Bäume und Wiesen giftgrün, der Himmel pfaublau, die Felsen sind grau und rot, die Häuser haben ein geradezu schmerzendes Relief, als könnten sie jeden Augenblick aus der Fassade fahren […].“ Diese Beobachtung Robert Musils macht deutlich, dass Ansichtskarten niemals und nirgendwo beliebige Sujets transportierten, sondern dass die Verlage schon immer bemüht waren, die schönsten, eindrucksvollsten, sensationellsten Blicke auf einen Ort oder eine Landschaft einzufangen. Solange sich Bild und private Mitteilung eine Seite der Karte teilen mussten, war der Bildraum relativ eingeschränkt: Die bildliche Darstellung stand mehr oder weniger in Konkurrenz mit der Nachricht, deren Inhalt zweifellos Aufmerksamkeit von der Bildbetrachtung abzog. Dies änderte sich erst ab 1905, als die Adressseite, durch eine Linie getrennt, auch der jeweiligen Nachricht Platz bieten musste. Indem die „Vorderseite“ nun ganz zur Schauseite wurde, erfuhr sie eine deutliche Aufwertung. Aus der Korrespondenzkarte mit Illustration wurde die Ansichtskarte mit ganzseitigem Bild, die dadurch vom reinen Kommunikationsmittel mehr und mehr auch zu einer Art Gabe oder Geschenk werden konnte.
Auch die „schönste“ Ansicht wurde jedoch häufig durch verschiedene visuelle Praktiken und drucktechnisch-grafische Verfahren wie eine intensivierte Kolorierung, Retuschen oder Montagen einer zusätzlichen „Verbesserung“ unterzogen. Wo darüber hinaus Effekte erwünscht waren, um das Augenmerk auf sich zu ziehen, kamen verschiedene grafische Elemente zum Einsatz.
Ein gestalterisches Grundmotiv war und ist etwa der Rahmen. Er verleiht einer sonst zufällig wirkenden Ansicht die Gewissheit, dass genau dieser ganz bewusst gewählte Ausschnitt der sehenswerteste ist. Dabei ist die Vielfalt solcher Rahmen grenzenlos. Sie reicht von einfachen Linien über breite Ränder, die die Ansicht wie in ein Passepartout montiert erscheinen lassen – daher auch der für diese Karten gebräuchliche Begriff „Passepartout-Karten“ –, bis hin zu goldfarbenen Umrahmungen, die die Anmutung kleiner Gemälde erzeugen wollen. In manchen Fällen finden sich auch Schmuckrahmen aus gemalten Blumen oder verschlungenen Ästen, die dann etwa als künstlerische Fassung für eine vergleichsweise unspektakuläre Fotoansicht fungieren.
Eine besondere Form der Rahmung ist der vorgetäuschte Blick aus einem Fenster auf eine Sehenswürdigkeit. So wird etwa die moderne Fotografie des Stephansdoms, betrachtet durch ein gotisches Fenster, als eine Zeitreise quer durch die Jahrhunderte inszeniert. Auch die scheinbare Aussicht aus einem Zugsabteil, die von neugierig aus dem Fenster sehenden Reisenden flankiert wird, kann unterschiedliche Orte der Stadt präsentieren.
Ein weiteres oft und gern gewähltes Gestaltungsmittel bei Ansichtskarten ist die Abbildung mehrerer kleiner Ansichten auf einer Karte, die branchenintern als Mehrbildkarten bezeichnet werden und den Vorteil haben, dass der dargestellte Ort gleich anhand mehrerer charakteristischer Ansichten vorgestellt wird. Im Bereich der Souvenirs, aber oft auch auf Geschäftsbriefpapieren war diese Praxis bereits im 19. Jahrhundert ein beliebtes Mittel, um auf einem Blatt gleich mehrere Sehenswürdigkeiten oder Geschäftsstellen in den Blick nehmen zu können. Diverse Postkartenhersteller übernahmen diese Idee und legten Karten mit mehreren kleinen chromolithografischen Ansichten der wichtigsten Sehenswürdigkeiten auf, die collageartig angeordnet und oft einzeln beschriftet wurden. Obwohl sich im Lauf der Jahrzehnte sowohl die Ästhetik als auch die Druckverfahren änderten, blieb dieses Prinzip bis heute unverändert. In den 1990er Jahren begann man gelegentlich, die einzelnen Ansichten nicht mehr separiert zu zeigen, sondern sie ineinander übergehen zu lassen. So wird gleichsam eine neue Stadt komponiert, in der das Hundertwasserhaus direkt neben der UNO-City steht oder, wie im Fall einer Fotomontage, eine Art Minimundus generiert wird, wo der Millennium Tower den Stephansdom bereits verdrängt hat.
Thematisch reicht das Spektrum der Mehrbildkarten von der Zusammenschau der berühmtesten Touristenattraktionen bis hin zu verschiedenen Einzelansichten eines bestimmten Orts wie etwa dem Wiener Prater. Eine weitere Sonderform der Mehrbildkarte findet sich in einer um 1905 von unbekanntem Hersteller aufgelegten Karte mit dem serifenlosen Schriftzug Wien, in dessen einzelne Buchstaben 20 Fotos der Bauten und Denkmäler der Stadt hineinmontiert sind. Sowohl in der Wahl der Typografie als auch in der Radikalität der Idee wirkt diese Postkarte aus heutiger Sicht ungemein modern. Als „Mikroskop-Postkarte“ war jene Gestaltungsform damals international weit verbreitet. Auch zu dieser Idee finden sich Pendants im 21. Jahrhundert, wie zum Beispiel die Karte mit der Aufschrift „Greetings from Ottakring Vienna“, bei der in jeden Buchstaben des Wortes Ottakring eine andere Ansicht des 16. Bezirks eingeschrieben ist. Dass die Wahl der Schrifttype generell ein gestalterisches Element auf Ansichtskarten darstellt, sei hier nur der Vollständigkeit halber kurz erwähnt.
Schließlich ist auch die Kombination einer Stadtansicht mit einer grafischen Illustration als weitere beliebte Gestaltungsform bei der Produktion von Ansichtskarten zu nennen, die vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Einsatz kam. Oft wurde durch das Zusammenwirken einer Ansicht mit einer künstlerischen Idee eine zusätzliche Kommunikationsebene eingezogen, wie etwa bei der Karte des Verlags Paul Ledermann 1908, auf der einerseits ein Bild des Stephansdoms zu sehen ist, andererseits gemalte Telegrafenmasten, eine Schar von Schwalben und die ebenfalls gedruckte Beschriftung „Herzliche Grüsse!“. Somit verweist die Karte gleich auf drei mögliche Wege, Grüße an eine vorgesehene Adresse zu transportieren: auf den klassischen Postweg, auf die moderne Technik der Telegrafie und auf die Zustellung einer Nachricht durch die abgebildeten Schwalben im Sinne der romantischen Vorstellung à la „Kommt ein Vogerl geflogen …“.
Ein weiteres Beispiel für eine zweite Kommunikationsebene findet sich in einer Karte, die in einem runden Ausschnitt eines gemalten Seerosenteichs ein Foto des Restaurants am Konstantinhügel im Prater zeigt. Tatsächlich befand sich am Fuß des Konstantinhügels ein Teich, auf dem auch Seerosen wuchsen. Im Jahr 1901 gelaufen, kann man aber annehmen, dass Ida V., die Versenderin dieser Ansichtskarte, in der damals vor allem in bürgerlichen Kreisen weit verbreiteten Blumensprache bewandert war und die Karte mit den Seerosen, denen Eigenschaften wie Treue, Reinheit, Klarheit und Optimismus zugeschrieben wurden, nicht ganz zufällig wählte, als sie sich damit dem Adressaten Herrn Victor Mühlberger in Erinnerung rief.
Auf einer weiteren Karte findet sich eine farbige fotografische Abbildung der Praterstraße mit Blick in Richtung Praterstern in Kombination mit einer Illustration, die neben einem Porträt Kaiser Franz Josephs diverse Jagdutensilien, Trophäen, Eichenlaub und Edelweiß zeigt. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um eine Ansichtskarte, die im Zusammenhang mit der stark besuchten Ersten Internationalen Jagdausstellung 1910 aufgelegt wurde, die im Prater stattfand, zu dem die fotografische Ansicht auf der Karte sozusagen hinführte. Abgesehen von einer ansprechend bunten und detailreichen Ansichtskarte gibt es also auch in diesem Fall eine Lesart, die, zumindest mit gewissen Vorkenntnissen, über das unmittelbar Sichtbare hinausführt.
Literatur:
Robert Musil: Hier ist es schön, in: ders.: Nachlass zu Lebzeiten, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 85.
Sándor Békési: Die topographische Ansichtskarte. Zur Geschichte und Theorie eines Massenmediums, in: Relation. Beiträge zur vergleichenden Kommunikationsforschung N.F. 1 (2004), S. 403–426.
Annett Holzheid: Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie, Berlin 2011.
Eva Tropper: Illustrierte Postkarten – ein Format entsteht und verändert sich, in: Monika Faber, Walter Moser (Hg.): Format Postkarte. Illustrierte Korrespondenzen 1900–1936 (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich 9), Wien 2014, S. 10–41.
Magdalena Vukovic: Ganz Wien, http://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/ganz-wien.html (16.12.2022).
Die Ausstellung Großstadt im Kleinformat. Die Wiener Ansichtskarte ist bis 24. September im Wien Museum MUSA zu sehen.
Begleitend zur Ausstellung erscheinen wöchentlich Beiträge zum Thema „Wiener Ansichtskarten“. Bisher in der Serie erschienen:
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