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Werner Michael Schwarz und Peter Stuiber, 6.2.2022

Karl Lueger als Populist und Antisemit

„Raubtiere in Menschengestalt“

Die Debatten um das Denkmal am Lueger-Platz zeigen, wie kontroversiell der Wiener Bürgermeister mehr als 110 Jahre nach seinem Tod nach wie vor diskutiert wird. Das betrifft zunächst einmal Fragen nach dessen politischen Populismus und Antisemitismus: Teil 1 eines Interviews mit Kurator Werner Michael Schwarz.

Peter Stuiber

Lueger wird in der Forschung als früher politischer Populist diskutiert. Hatte das auch mit Parallelen in der österreichischen Innenpolitik der Zweiten Republik zu tun?

Werner Michael Schwarz

Das Interesse an der Person des Wiener Bürgermeisters stieg tatsächlich seit den 1990er-Jahren mit dem politischen Aufstieg Jörg Haiders sprunghaft an, weil trotz des Abstandes von fast hundert Jahren viele Parallelen zwischen den beiden Politikern gesehen wurden. Man denke an Haiders ausgrenzende Sprache und sein „Ausländervolksbegehren“, gegen das 1993 mit dem „Lichtermeer“ am Heldenplatz protestiert wurde. Theorien zum politischen Populismus setzen durchgängig zwei Kriterien voraus: Die Kritik und Herausforderung einer tatsächlichen oder angeblichen Elite und die Berufung auf die Souveränität des Volkes. Als Ziele der Populisten gelten die Erreichung und Behauptung von Macht, als wichtige Methoden Skandalisierung und Volkstümlichkeit. Tatsächlich können viele dieser Eigenschaften bei Lueger beobachtet werden. So startete er seine politische Karriere in den 1870er-Jahren, noch als Mitglied verschiedener liberaler Gruppierungen und inspiriert und gefördert vom jüdischen Arzt und Politiker Ignaz Mandl als scharfzüngiger Redner, als Aufdecker von Missständen und mit Forderungen nach Demokratisierung, die sich gegen das Kurienwahlrecht richtete, das tatsächlich äußerst undemokratisch war. Es ließ nur Männer als Wähler zu, setzte eine bestimmte Steuerleistung voraus, teilte die Wähler zudem auf drei Kurien auf und gewichtete so ihre Stimmen ungleich. Dieses „Privilegienwahlrecht“ wurzelte im liberalen Demokratieverständnis, wonach zwar die Politik dem Wohl aller zu dienen hatte, deren Gestaltung aber den gebildeten und wirtschaftlich erfolgreichen Bürger vorbehalten sein sollte.

PS

Lueger startete seine Karriere als Demokrat. Wie lässt sich sein späteres Demokratieverständnis charakterisieren?

WMS

Lueger folgte in dieser Beziehung bald seinen liberalen Vorgängern, die er deshalb davor so vehement bekämpft hatte. Ab dem Zeitpunkt als er mit Hilfe der Ausweitung des Wahlrechts an die Macht gekommen war, versuchte er seinerseits eine Ausweitung über den Kreis seiner Anhängerschaft hinaus zu verhindern. Zwar wurde 1900 der Gemeinderatswahlmodus geändert und neben den drei bestehenden eine vierte Kurie geschaffen, in der nun alle Männer über 24 Jahren wahlberechtigt waren, mit weniger als einem Viertel der Mandate blieb ihr realer Einfluss aber gering. Zudem wurde eine dreijährige Ansässigkeit in Wien festgeschrieben, um die mobilere Arbeiterschaft möglichst an der Ausübung des Wahlrechts zu hindern. Auf Gemeindeebene musste sich Lueger so nie einer einigermaßen fairen Wahl stellen und konnte ohne nennenswerte Opposition regieren. Das macht es auch schwierig, die Behauptung seiner großen Popularität in Wien einigermaßen valide zu bewerten. Sicher genoss Lueger bei seiner Anhängerschaft eine fast kultische Verehrung, die sich kulturell vielfältig äußerte und im städtischen Gedächtnis tief verankerte, aber seine Popularität fand ihre Grenzen bei den von ihm selbst konstruierten Minderheiten, die schon rein zahlenmäßig ein großes Gewicht hatten.   

PS

Wer war Luegers „Volk“?

WMS

Für die Einschätzung von Luegers Politik ist diese Frage essenziell. Ab seiner Hinwendung zum Antisemitismus in den 1880er-Jahren definierte er sein „Volk“ als „christlich und deutsch“ und damit stark exkludierend. Das schloss die jüdische Bevölkerung aus, die nicht deutschsprachige und so insbesondere die Wiener TschechInnen, ebenso wie die sozialistisch organisierte Arbeiterschaft und die politisch Liberalen, für die Religion Privatsache war. Vor dem Hintergrund, dass Wien die Hauptstadt eines Vielvölkerreiches war, erscheint eine solche Definition von ´Volk` bizarr, erklärt ihren Erfolg aber genau aus dieser Situation, da gerade hier über die Konstruktion von Minderheiten eine Mehrheit behauptet und gegen erstere mobilisiert werden konnte. Die englische Politikwissenschaftlerin Margaret Canovan hat für diesen auf Vorurteilen und Ausgrenzung basierenden Typus von Populismus den Begriff des „reactionary populism“ geprägt.     

PS

Wie konnte Lueger das gelingen? Was waren die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür?

WMS

Als Voraussetzung für den Erfolg populistischer Politik gilt eine breite gesellschaftliche Krisenerfahrung, die auch für den Aufstieg Luegers maßgeblich verantwortlich gemacht wird. Das betrifft die einschneidende, zwei Jahrzehnte dauernde Wirtschaftskrise, die im Wiener Börsenkrach von 1873 ihren Ausgang genommen hatte, ebenso wie die gravierenden Veränderungen durch eine in Österreich verspätet einsetzende, aber rasant nachgeholte Industrialisierung, die viele traditionelle Wirtschaftszweige vor große Herausforderungen stellte. Für Verunsicherung sorgte auch die scharfe Säkularisierungspolitik der regierenden Liberalen und der damit verbundene Kulturkampf mit der katholischen Kirche (Kündigung des Konkordats 1870). Als bedeutend wird dabei auch die Politik der Liberalen diskutiert, die aus Machtkalkül, wie aus ideologischen Motiven nicht in der Lage waren diesen Entwicklungen gegen zu steuern, weder sozial, noch politisch etwa durch eine Ausweitung des Wahlrechts, wodurch sie den Desintegrationsprozess vor allem des mittleren und kleinen Bürgertums weiter verstärkten und so dazu beitrugen, dass sich ab ca. 1880 das Potenzial für antiliberale, antisemitische und völkische Bewegungen stetig vergrößerte.

PS

Lueger wandte sich in dieser Phase dem Antisemitismus zu. Wie kann man diesen charakterisieren?

WMS

Wenn es um Luegers Antisemitismus geht, werden in der Regel zwei Fragen diskutiert. Die erste Frage zielt darauf ab, ob Lueger aus Überzeugung oder aus politischer Taktik Antisemit wurde und war. In der Regel wird in der Forschung für zweites plädiert und Lueger ein „manipulativer“ Antisemitismus attestiert, der als Teil seines politischen Populismus gesehen wird. In den 1880er-Jahren wird aus verschiedenen Gründen der Antisemitismus zu einem stark mobilisierenden Thema in den politischen Diskursen der Zeit. Als „politischer Chemiker“, wie Carl Schorske Lueger charakterisierte, nutzte er das, um stark divergierende gesellschaftliche Gruppen, die um ihren sozialen Status fürchteten, zu seiner Anhänger- und Wählerschaft zu formen. Zu diesen Gruppen zählten kleine Selbstständige und Handwerker, die so auf die Wirtschaftskrise nach 1873 und die Veränderungen infolge der Industrialisierung reagierten und die wie das Proletariat durch das Wahlrecht politisch marginalisiert wurden. Dazu zählte auch der niedere katholische Klerus, dessen gesellschaftliches Ansehen insbesondere durch die liberale Bildungspolitik stark gelitten hatte.

Die zweite Frage zielt unabhängig davon, ob Lueger ein „echter“ oder ein opportunistischer Antisemit war, auf die Qualität seines Antisemitismus. Dabei geht es um die Frage nach der Radikalität des Hasses auf Juden und Jüdinnen. Geht man gedanklich von einer Skala aus, dann stellte der Rassenantisemitismus, wie ihn Georg von Schönerer in Österreich vertrat die extremste Form dar, bei der nicht die Religion oder das Handeln und Denken, sondern der Körper und die Biologie als Unterscheidungsmerkmale definiert wurden. Bei dieser Konstruktion gibt es für die Betroffenen kein Entrinnen (etwa durch Taufe), wie das im Nationalsozialismus und der Shoah grausame Wirklichkeit wurde. Schwieriger ist allerdings die Frage zu beantworten, welche Qualitäten der Antisemitismus jenseits dieser extremen Form hatte. Das Problem beginnt bereits bei der Begrifflichkeit. Im Fall Luegers ist häufig etwa von einem „wirtschaftlichen“ Antisemitismus die Rede, womit das sog. jüdische Kapital als Angriffsfläche gemeint ist oder von einem Antisemitismus, der zwischen einem traditionellen, christlichen und einem rassistischen liegen würde. Aber was bedeutet das? Luegers antisemitische Aussagen waren keinesfalls differenzierend, sondern stark pauschalierend, es handelte sich nicht um Unter- oder Nebentöne, wie das auch von Politikern anderer Richtungen bekannt ist, sondern um dramatische und hasserfüllte direkte Angriffe, wenn er etwa 1890 von Juden als „Raubtieren in Menschengestalt“ spricht, um nur ein Beispiel unter vielen zu zitieren. Das Problematische an den Definitionen seines Antisemitismus ist, dass man diesen begrifflich nicht nach der Richtung, sondern nach den möglichen Motiven zu fassen versucht. Aber was bedeutet „wirtschaftlicher“ Antisemitismus konsequent anderes als letztlich den Ausschluss der Juden und Jüdinnen vom wirtschaftlichem Leben.

PS

Ist das eine der Strategien, den Antisemitismus Luegers zu verharmlosen?

WMS

Beide Unterscheidungen sowohl hinsichtlich der Frage nach der „Echtheit“ wie nach der Qualität seines Antisemitismus wirken sicher in diese Richtung, ohne gleich zu sagen, dass das auch intendiert sein muss. Theoretisch gibt es ja einen Unterschied zum Rassenantisemitismus (als Vorstufe, Ableger etc.). Aber was bedeutete das in der Praxis? Es ist deshalb bei einem Politiker wie Lueger meines Erachtens weniger sinnvoll, danach zu fragen, was er tatsächlich dachte, als nach den Wirkungen seiner Politik und somit nach den Perspektiven seiner AnhängerInnen und insbesondere der davon Betroffenen. Man kann davon ausgehen, dass viele seiner AnhängerInnen nicht zwischen unterschiedlichen antisemitischen Positionen unterschieden, die sich während Luegers Aufstieg auch gerade erst herausbildeten, sondern diesen universalen „Sündenbock“ als Angebot für alle ihre sozialen, politischen und ökonomischen Unsicherheiten und Probleme aufgriffen und in (welchem Grad der Radikalität auch immer) weitertrugen. Vor allem aber was bedeutete diese permanente zumindest verbale Ausgrenzung für die so Angesprochenen, für Selbstwertgefühl und Zugehörigkeit? Was bedeutete das etwa für Kinder und ihr Aufwachsen. Die tiefe Verunsicherung, die das auslöste kann in vielen biografischen Zeugnissen nachgelesen werden. 

PS

Wie konkret zeigte sich Luegers Antisemitismus in seinem politischen Handeln als Wiener Bürgermeister?

WMS

Man muss vorausschicken, dass die Möglichkeiten Luegers als Wiener Bürgermeister durch die Verfassung und die staatliche Gesetzgebung begrenzt waren. Im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten aber wurden Juden und Jüdinnen bei ihrem beruflichen Fortkommen behindert und ihrem wirtschaftlichen Handeln stark benachteiligt. Das betraf, wie wir der Lueger-Biografie John Boyers entnehmen können, zunächst den Boykottaufruf „Kauft nur bei Christen“, der 1895 nach der Verweigerung der kaiserlichen Bestätigung für Lueger ausgerufen wurde. Diese Aktion ging von der christlichsozialen Partei und ihren AnhängerInnen aus und hatte noch nichts mit dem Amt selbst zu tun, veranschaulicht aber, wie stark der Antisemitismus bereits den Alltag erreicht hatte. Während seiner Amtszeit betrifft das den Beförderungsstopp für jüdische Beamte, die Benachteiligung von Juden und Jüdinnen bei öffentlichen Aufträgen oder die Diskriminierung bei Ehrungen wie im Fall der Verleihung des Bürgerrechts.

PS

Hat sich Luegers Antisemitismus während seiner Amtszeit verändert?

WMS

Gegen Ende seiner Amtszeit sind Aussagen von ihm (allerdings zumeist nur mündlich) überliefert, die in diese Richtung gedeutet werden. Allerdings finden sich auch genau gegenteilige Beispiele, die zeigen, dass Lueger bei einer ernsthaften Bedrohung seiner Machtstellung auch später zu äußerst aggressiven Drohungen bereit war, die auf einen weiteren Grad der Radikalisierung seines Antisemitismus hinweisen. Das war etwa 1905 der Fall als er bei einer Wahlrechtsdebatte und angesichts der Revolution in Russland die Wiener Juden davor warnte, die Sozialdemokraten zu unterstützen. In diesem Fall drohte er unmissverständlich mit Gewalt: „Wir in Wien sind Antisemiten, aber zu Mord und Totschlag sind wir gewiss nicht geschaffen. Wenn aber die Juden unser Vaterland bedrohen sollten, dann werden auch wir keine Gnade kennen.“ Dieses Beispiel vermittelt viel über Lueger politisches Gespür und seine Rücksichtslosigkeit zum Machterhalt. Er hatte erkannt, dass die russische Revolution in Österreich die Meinung zugunsten der Einführung eines allgemeinen Männerwahlrechts auf staatlicher Ebene verändern könnte, wie das auch tatsächlich dann der Fall war. Für Lueger und die christlichsoziale Partei bedeutete das eine ernsthafte Bedrohung, wie das die Parlamentswahlen von 1907 und 1911 zeigen sollten, wo sie in Wien prozentmäßig zunächst nur relativ knapp vor den Sozialdemokraten lagen, später von diesen überholt wurden.

PS

Dem Antisemitismus Luegers werden häufig seine kommunalpolitischen Leistungen gegenübergestellt. Wie lässt sich das beurteilen?

WMS

Dazu kann man zwei Vorbemerkungen machen. Der Kult um Lueger, der wie Harald D. Gröller argumentiert „Sakralisierungstendenzen“ zeigte, setzte bereits einige Jahre vor seiner Wahl 1895 ein und steigerte sich dann noch einmal während der zweijährigen Übergangszeit bis zur kaiserlichen Zustimmung. Wie bei Elisabeth Heimann nachzulesen, lief dafür eine bis dahin einzigartige Werbemaschinerie an, die sowohl zum Zweck der Verehrung wie zur Unterhaltung seines Wahlfonds Zigarettenpapier, Teller, Tassen, Medaillen, Ausschneidebilder etc. in Massen produzierte und mit Porträts von Lueger in Umlauf brachte. Mit dieser Werbekampagne, dem die liberalen Gegner operativ nichts entgegenzusetzen hatten und den damit verbreiteten Heilserwartungen ging bereits die Behauptung von den großen Leistungen einher, noch bevor sie überhaupt erst erbracht werden konnten. Das andere ist, dass eine „Aufrechnung“ streng genommen nur innerhalb einer Einheit möglich ist und so gesehen die problematischen Seiten seiner Politik nicht mit positiv beurteilten Leistungen gegengerechnet werden können, zumal Lueger zu diesen ja auch schon Kraft seines Amtes verpflichtet war. Ein wesentliches Kalkül hinter dieser Behauptung bestand aber selbstverständlich darin, die Leistungen seiner liberalen Vorgänger gering erscheinen zu lassen.

Teil 2 des Interviews mit Werner Michael Schwarz finden Sie hier

Weitere Beiträge im Rahmen unseres Lueger-Denkmal-Schwerpunkts:

Andreas Nierhaus: Christlichsozialer Personenkult im Roten Wien. Das Lueger-Denkmal von Josef Müllner

Andreas Nierhaus: Mischwesen, Helden, Machtmenschen. Der Bildhauer Josef Müllner

Literatur:

John W. Boyer: Karl Lueger (1844-1910): Christlichsoziale Politik als Beruf: Eine Biografie, Wien 2011.

Margaret Canovan: The people, Cambridge 2005.

Harald D. Gröller: Wechselwirkungen zwischen dem „ersten Beamten“ Kaiser Franz Joseph I. und dem „Volkskaiser“ Dr. Karl Lueger, in: zeitgeschichte 5/17.

Elisabeth Heimann: Die (Selbst-)Inszenierung Karl Luegers und die Rezeption nach 1910, Wien 2015.

Wolfgang Maderthaner: Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Peter Csendes, Ferdiand Opll (Hg.): Wien. Geschichte einer Stadt. Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien 2006, S. 175-544.

Hella Pick: Lueger und Haider oder Die verführerische Kraft des Populismus, in: Hans-Henning Scharsach (Hg.): Haider, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 270ff.

Maren Seliger, Karl Ucakar: Wien. Politische Geschichte, 2 Bde, Wien 1985.

Michael Wladika: Hitlers Vätergeneration: die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k.u.k. Monarchie, Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2005.

Bernd Zisser: Dr. Karl Lueger – ein früher österreichischer Populist, Dipl. Arbeit, Wien 2004.

Werner Michael Schwarz, Historiker, Kurator am Wien Museum, Schwerpunkt Stadt-, Medien- und Filmgeschichte, u.a. „Das Rote Wien“ (2019) und Pratermuseum (2024).

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

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