Hauptinhalt
Distribution von Ansichtskarten
„Bediene dich selbst!“
Der Handel mit Ansichtskarten entwickelte sich um 1900 zu einem lukrativen und hoch differenzierten Gewerbe. Da ihr Vertrieb seitens der Gewerbebehörden keinerlei Einschränkungen unterworfen war, konnte jeder und jede mit ihnen Geschäfte treiben: vom einzelnen Bauchladen-Krämer und Hausierer über Gasthäuser und Ausflugsrestaurationen, Gemischtwarenhandlungen und Trafiken bis hin zu Papier- und Schreibwarenhandlungen. Ein besonderes Phänomen sind dabei ausschließlich auf Ansichtskarten spezialisierte Geschäfte, die in allen großen und mittelgroßen Städten – zumeist in zentraler, stark frequentierter Lage – entstanden. In Wien etwa betrieb Hans Nachbargauer, selbst Postkartenverleger und zudem Vertreter von Regel & Krug in Leipzig, ein solches Geschäftslokal am Kaiser-Ferdinands-Platz 5, dem heutigen Wiener Schwedenplatz. Heinrich Kölz und Salomon Kohn bauten gar, ausgehend von ihren Postkartenverlagen, eigene Filialsysteme mit mehreren Ladengeschäften auf. So verfügte Kölz um 1900 über drei Standorte in Wien und einen in Graz (wobei er nur den in Graz dauerhaft weiterbetreiben sollte); Kohn über drei Standorte in Wien und einen in Berlin.
Solche Geschäfte ermöglichten nicht nur den bequemen Erwerb von Ansichtskarten mit unterschiedlichsten Motiven, so wie sie sich um 1900 ausprägten. Sie ermöglichten darüber hinaus das Eintauchen in ein visuelles Spektakel. Schon über die Schaufenster, erst recht aber über das räumliche Arrangement im Inneren der Läden wurden Warenfülle und Vielfalt als sinnlich erfahrbare Qualitäten inszeniert, die zum Konsum anregen sollten. Dabei wurde auf zeitgenössische Präsentationsweisen und Verkaufskonzepte gesetzt. Der Verlag der Brüder Kohn warb etwa mit dem Schlagwort „Bediene dich selbst“ und schuf damit eine frühe Form des Selbstbedienungsladens. Die Kund*innen konnten zwischen Regalen und Stelltischen umherschweifen und selbstständig ihre Wahl treffen, womit Qualitäten wie Mobilisierung und Erlebnisorientierung verbunden waren.
Im Kleinen leistete das auch ein ‚Verkaufsmöbel‘ wie der Postkartenständer, der um 1900 entwickelt wurde und eine bis heute anhaltende Karriere im Verkauf von Ansichtskarten machen sollte: Seine Drehvorrichtung ermöglichte den Betrachtenden – übrigens mithilfe einer hochgradig optimierten Raumnutzung – nicht nur den schnellen Überblick über eine Vielzahl von Objekten. Indem der Postkartenständer die Karten ‚in Bewegung‘ brachte, trainierte er darüber hinaus eine Mobilisierung des Blicks und das Verarbeiten einer Fülle von rasch aufeinander folgenden visuellen Eindrücken.
Doch der Erlebniswert des Postkartengeschäfts hatte noch eine weitere Dimension – stieß es doch auch geografische Vorstellungen an. Heinrich Kölz hatte neben „Künstlerkarten“ sowie „Chic- und Gelegenheitskarten“ vor allem Ortsansichten in seinem – angeblich drei Millionen zählenden – Lagerbestand, aus dem eine reiche Auswahl in den Geschäften erhältlich war: Neben „Wiener Ansichten“ waren das „Ansichtskarten für Landpartien und Reisen“ sowie „überseeische Karten“. Anders als im späteren Verkauf von Ansichtskarten wurde hier ein umfassender geografischer Anspruch formuliert: Man konnte Material unterschiedlicher Destinationen zu Sammelzwecken erwerben, Ansichten in Vorbereitung einer bevorstehenden Reise zusammenstellen – oder einfach nur in die Fülle dargebotener Ortsansichten eintauchen. Dabei machte das Postkartengeschäft ein Nebeneinander naher und entfernter Orte visuell greifbar und wurde so zu einem Raum, in dem imaginäre Reisen möglich wurden.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Postkartengeschäfte gerne mit dem Begriff der „Ausstellung“ beworben wurden. Salomon Kohn bezeichnet seine Filialen etwa als „permanente Ansichtskarten-Ausstellung“ und preist sie als „hervorragende Sehenswürdigkeit“ an, deren „Besichtigung“ frei ist. Der Sprachgebrauch veranschaulicht die Annäherung unterschiedlicher Erfahrungsräume: Im Postkartengeschäft changierte die Präsentation der Objekte zwischen Warenstatus und Exponat, zwischen kommerzialisierenden und musealisierenden Gesten des Zeigens.
Vice versa entstanden um 1900 auch gewerbliche Postkarten-Ausstellungen, die sich in vergleichbarer Weise zwischen kommerziellem Anspruch und Wissenspopularisierung bewegten. Im Wiener Kontext war der Verband der österreichischen Papier- und Schreibwaren-Interessenten federführend in der Planung und Durchführung solcher Veranstaltungen. Dabei zeigt sich der enorme Relevanzgewinn des Mediums innerhalb weniger Jahre: 1896 waren Ansichtskarten noch ein Randgebiet der jährlichen Ausstellung des Verbandes gewesen, in der bis dahin vor allem Zeichen-, Mal- und Schreibwaren gezeigt worden waren. Zwei Jahre später, 1898, hatte das Medium so an Bedeutung gewonnen, dass ihm bereits eine eigene Ausstellung im Festsaal der Handels- und Gewerbekammer gewidmet wurde – zu sehen waren insgesamt 6000 Ansichtskarten.
Dazu hieß es in einer Zeitung: „Was auf der Ausstellung Alles [sic] zu sehen ist, ist schwer zu sagen. Der Wahrheit wird am nächsten die Behauptung kommen, dass so ziemlich die ganze Welt im Bilde vorgeführt ist.“ Der Boom hielt an; 1899 wurde die noch umfangreichere „II. Ausstellung illustrirter Postkarten“ in den Sälen der k.k. Gartenbau-Gesellschaft durchgeführt: Neben Ausstellern aus dem Bereich der Habsburger Monarchie waren auch zahlreiche internationale Hersteller vertreten – allen voran deutsche, aber auch Schweizer, französische und italienische Firmen. Dabei waren es wiederum vor allem topografische Ansichtskarten unterschiedlichster Destinationen, die die Besuchenden empfingen.
Solche Ausstellungen richteten sich durchaus nicht nur an Zwischenhändler und gewerblich Interessierte, sondern wurden laut zeitgenössischen Rezensionen von einem breiten Publikum besucht. Dabei dürften die gezeigten Wiener Ansichten ein besonderer Anziehungspunkt gewesen sein. So war 1899 der erste Saal der Ausstellung dem Sortiment des Verlegers Carl Ledermann gewidmet. Unter dem Titel „Unsere Wienerstadt in Postkarten“ wurden dort Ansichtskarten aller 19 Wiener Bezirke präsentiert. Die Attraktivität dieser Präsentation zeigt, wie zentral das Medium für die visuellen Vorstellungen der Wiener:innen von ihrer Stadt gewesen sein muss. Die nebeneinander präsentierten Stadtansichten – und das gilt auch für die Postkartengeschäfte mit ihren Displays – schufen einen Überblick, der im physischen Stadtraum nicht möglich war; sie zeigten Vertrautes und Neues, Verschwindendes und in Veränderung Begriffenes innerhalb der städtischen Topografie. Auf eine gewisse Weise übernahmen Ansichtskarten so eine Orientierungsfunktion im Rahmen der akzelerierten Urbanisierungsprozesse um 1900 – machten sie doch urbanen Wandel sichtbar und verständlich.
Die Art und Weise, wie Ansichtskarten zum Verkauf beziehungsweise zur Betrachtung dargeboten wurden, geht also weit über pragmatische Aspekte hinaus. Die Omnipräsenz des Mediums im öffentlichen Raum – in der Gastwirtschaft, im Biergarten, im Postkartenladen oder in der Postkartenausstellung – erzeugte neue Formen der Sichtbarkeit und verband Konsumkultur und Wissenspopularisierung auf spielerische Weise. Ganz unabhängig davon, ob man nun Ansichtskarten käuflich erwarb oder nicht, ermöglichte diese Präsenz des Mediums breiten Teilen der Bevölkerung das Erlernen eines visuellen Vokabulars und den Umgang mit massenhaften visuellen Eindrücken.
Quellen & Literatur:
Ministerialverordnung vom 3. August 1890, in: Reichgesetzblatt, 1890, Nr. 160
N.N., Ausstellungen von Ansichtspostkarten, in: Mährisches Tagblatt, 2. Juni 1898, S. 5
Papier- und Schreibwaren-Zeitung. Fachorgan für den Papier- und Schreibwarenhandel und Industrie, Buchbinderei, Cartonnage-Fabrication etc. 24 (1899)
Alarich Rooch: Zwischen Museum und Warenhaus. Ästhetisierungsprozesse und sozial-kommunikative Raumaneignungen des Bürgertums, Oberhausen 2001
Gudrun M. König: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien/Köln/Weimar 2009
Die Ausstellung Großstadt im Kleinformat. Die Wiener Ansichtskarte ist bis 24. September im Wien Museum MUSA zu sehen.
Begleitend zur Ausstellung erscheinen wöchentlich Beiträge zum Thema „Wiener Ansichtskarten“. Bisher in der Serie erschienen:
Kommentar schreiben
Kommentare
Lieber Thomas Abfalter, herzlichen Dank für den Hinweis! Wir haben die Bildunterschrift ergänzt. Freundliche Grüße aus der Redaktion
Beim Bild einer Grußkarte mit Außenansicht eines Postkartengeschäfts wird als heutige Adresse Schwedenplatz 18 angegeben. Diese Adresse existiert aber nicht. Es dürfte eher Schwedenplatz 25 (jetzt McDonalds) sein.