Hauptinhalt
Ilse Helbichs Wien der Zwischenkriegszeit – Teil 7
Der Laternenanzünder
Es war schön für das Kind, wenn es an den verdämmernden Herbstabenden im Großelternhaus sein durfte. Der Großvater war ausgegangen, die Großmutter irgendwo im Haus zugange, leises Klappern kam aus der Küche, das Kind war allein im schon dunklen Speisezimmer. Es stand am Fenster und sah hinaus auf die stille Sieveringerstraße, das Kopfsteinpflaster zwischen Kastanienbäumen, die tagsüber glänzenden Schienen der Tramway, des 39ers, jetzt stumpf.
Das Kind stand da und wartete auf den Laternenanzünder, und da kam der kleine Mann auch schon geschlichen. Jetzt lehnt er seine Leiter gegen den Laternenmast vor seinem Fenster, klettert leise und behände hinauf und – klicks – schon brennt die Gaslaterne, während der kleine Mann zur nächsten weiterschleicht. Und dem Kind hinter der Fensterscheibe ist jetzt heimelig und beschützt im milden Schein von draußen, der wie Mondlicht das Dunkel des Raumes leicht macht.
Erst viele Jahre später begriff die Autorin, dass die Zeit ihrer Kindheit eine wilde und voller Wirren war. Da waren die politischen Umwälzungen in der neuen Republik, die Wirtschaftskrise mit dem Heer von Arbeitslosen und dazu noch die Spanische Grippe, die die Bevölkerung dezimierte. All das spürte das Kind, dass die Autorin damals war, manchmal wie Wellen eines fernen Erdbebens, manchmal aber als harte Stöße, deren Ursache sie nicht erkannte.
Aber da war ja noch das Andere: der kleine Schattenmann mit seiner kleinen Leiter und hinter ihm die Reihe von anderen Laternenanzündern. Es gab also eine sichere Verbindung mit einer sicheren Vergangenheit, die das Heute mit einschloss.
Da war das alte Winzerhaus und die Grinzinger Dorfkirche, und da war z.B. der Bach, der Erbsenbach, der aus dem Wienerwald kommend heute die Sieveringer Straße in einem unterirdischen Kanal durchfließt.
Jedoch zu Zeiten des Kindes floss der Bach neben dem Gehsteig in seinem Bett dahin und bevor er dann untertauchte stand da ein verdorrter Baum, der seine beiden Astarme dem Himmel entgegenstreckte. Und dann war der Bach etwa dort wo die Daringergasse in die Sieveringer Straße mündet schon wieder da und floss hinter dem niederen Biedermeierhaus, in dem ihre Freundin wohnte, in einem weiten Wiesengrund dahin. Die Ufer des Baches waren gesäumt von fetten Huflattichblättern und himmelblau blühenden Vergissmeinnicht. Die Freundinnen warfen kleine Holzstückchen ins Wasser, das waren ihre Boote, und sie sahen zu wie die den Bach hinunter trieben in einem kleinen Strudel versanken und schon wieder aufgetaucht waren, ehe sie den Blicken der Kinder endgültig entschwanden.
Der Laternenmann und der Bach. Wenn die Gegenwart die Vergangenheit mit einschließt: Beständigkeit. Vielleicht hat der Begriff Heimat damit zu tun.
Der Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Textes aus dem Buch „Vineta“ von Ilse Helbich, das 2013 im Literaturverlag Droschl erschienen ist. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Sechs weitere Texte daraus sind bereits erschienen: Eislaufplatz, Gassenbuben, Waschtag, Eismann, sowie Spucknapf, Zigarrenrauch und Stadtmusiken.
Kommentar schreiben
Kommentare
Keine Kommentare