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Ilse Helbichs Wien der Zwischenkriegszeit – Teil 8
Die Tramway
Der gelernte Wiener spricht das Wort „Tramway“ so aus wie er es schreibt. Wenn man einen Stadtplan von Wien, etwa aus den 30er Jahren, zur Hand hätte, würde das Straßenbahnnetz sich wie ein Spinnengewebe darüber legen. Es gibt einen Innen-Zirkel, der die innere Stadt in beiden Richtungen umrundet, und in einem weiter gespannten Bogen die Gürtellinie. Vom Ring weg sind radial geführte Linien bis zu den jeweiligen äußersten Punkten an der Stadtperipherie geführt und quer verlaufende Linien verbinden die Radialen untereinander.
Für gewöhnlich besteht ein Straßenbahnzug aus 3 Waggons: dem Ersten mit dem Fahrer am Führerstand, dahinter den „Raucher“, der von beißendem Qualm erfüllt ist, und schließlich einen dritten Wagen, der den Individualisten vorbehalten ist und dazu denen, die der abfahrenden Straßenbahn nachlaufend gerade noch die hinterste Plattform erwischt haben und nun schnaufend und nach Atem ringend auf einer der Holzbänke Platz genommen haben.
Jeder der Wagen hat seinen eigenen Schaffner in dunkelblauer Uniform und mit entsprechender Schirmkappe. Der Schaffner hat ein Pfeiferl an einem Lederriemen um den Hals, das er jedoch nur in der Remise zum Verschieben und Zusammenkuppeln der Waggons braucht. Die Aufgabe des Schaffners ist es, die Aus- und Einstiege zu beobachten und eine der Decke entlanglaufende Leine zu ziehen; dann hört der Wagenführer vorne einen Klingelton und weiß, dass nun keiner mehr zusteigt und die Weiterfahrt möglich ist.
Und natürlich trägt jeder Schaffner eine große Ledertasche quer über der Schulter; darin sind vielerlei Fahrscheine verstaut, für eine Fahrt oder für Hin- und Rückfahrt, für Kinder, für Hunde und Gepäckstücke und viele Sorten mehr. Wie er diese in vielerlei Farben prangenden Fahrscheine mit seiner in der rechten Hand geführten Zwickzange locht, scheint eine eigene Kunst zu sein.
Und natürlich gibt es die Kontrollore. Sie stecken in schwarzer Uniform und treten immer zu zweit auf. Der Respekt vor ihnen ist groß und sie haben es in dieser Zeit nicht nötig, sich als Zivilisten getarnt unter die anderen Fahrgäste zu mischen um diese zu überrumpeln.
Eine Schaffner-Garnitur ist der Wunsch eines jeden kleinen Buben; und wenn er etwa 5 oder 6 Jahre alt ist erhält er zu Weihnachten oder zu seinem Geburtstag als großes Geschenk gewiss eine solche mit Kappe und Pfeiferl, einer verkleinerten Imitation der großen Schaffnertasche mit einer Kopie aller Sorten von Fahrscheinen, die sich in der echten Schaffnertasche befinden.
Sie selbst, die Ältere und „Gescheitere“, hat sich manchmal an die Schaffnertasche des kleinen Bruders herangemacht und die grünen und weißen und rosa Fahrscheine gezwickt und immer weiter gezwickt und nicht aufhören können, bis der Bruder heulend herbeistürzte und die Mutter sie für diesen Übergriff schalt. Das Schaffnersein ist damals eine Männerangelegenheit.
Der Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Textes aus dem Buch „Vineta“ von Ilse Helbich, das 2013 im Literaturverlag Droschl erschienen ist. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Diese Texte daraus sind bereits erschienen:
Eislaufplatz
Gassenbuben
Waschtag
Eismann
Spucknapf, Zigarrenrauch
Stadtmusiken
Der Laternenanzünder
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