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Peter Payer, 5.7.2023

Wiener Nachtansichten

Die Faszination Lichtmeer

Dunkelheit unterbrochen von dezenten, flackernden oder strahlend imposanten Lichtquellen – eine Stadt bei Nacht birgt eine ganz eigene Ästhetik. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts zeigen Ansichtskarten die nächtliche Stimmung Wiens in all ihren Facetten. 

Im Dezember 1908 empfahl Reinhard E. Petermann, renommierter Journalist des Neuen Wiener Tagblatts, seiner Leserschaft: „Das nächtliche Bild Wiens, wie es sich jetzt von den Höhen und Vorhöhen des Kahlengebirges darstellt, ist nachgerade zu einer Sehenswürdigkeit geworden, die es verdienen würde, in den Reisebüchern besonders vermerkt und den Besuchern Wiens zur Besichtigung empfohlen zu werden.“

Andere sprachen – nicht weniger euphorisch – vom „irdischen Sternenglanz“ und vom „Lichtermeer“, das sich über die ganze Stadt ausbreite. „Wien bei Nacht“ stellte eine beeindruckende visuelle Erfahrung dar. Und avancierte schon bald, abseits bekannter erotischer Konnotationen, zu einer erfolgreichen Strategie der Stadtrepräsentation. Topografische Nachtansichten entstanden in immer größerer Zahl und fungierten als urbane Imagebotschaften.

Den illustrierten Postkarten kam dabei eine zentrale Bedeutung zu, wurden sie doch genau zu jener Zeit zum Massenmedium, als auch die elektrische Beleuchtung den Straßenraum zu erhellen begann. So wurde etwa die spektakuläre Beleuchtung des Grabens in Form von Bogenlampen auf Ansichtskarten festgehalten. Ebenso zahlreiche weitere beleuchtete Sehenswürdigkeiten, allen voran der Stephansdom, das Rathaus oder der Leuchtbrunnen am Schwarzenbergplatz, der seit 1906 als „Fontaine lumineuse“ mit bunten Wasserstrahlen beeindruckte.

Gezeichnete, gemalte, mit ausgestanzten Lichtfenstern versehene „Mondscheinkarten“ oder grün beziehungsweise rot folierte Bildpostkarten setzten die jeweiligen ‚Highlights‘ gekonnt in Szene. Die erste fotografische Postkartenserie, die explizit den Titel „Wien bei Nacht“ trug, wurde ab 1917/18 von der Kunstanstalt Kilophot herausgegeben.

Ab den 1920er Jahren zogen andere Verlage nach (Brüder Kohn, P. Ledermann) und erweiterten die Palette der angebotenen Nachtmotive. So wurden neben Baudenkmälern auch zunehmend Plätze bildwürdig (Freyung, Deutschmeisterplatz, Michaelerplatz, Neuer Markt), Parks und Gartenanlagen (Stadtpark, Rathausplatz) sowie Donaukanalbrücken (Aspernbrücke, Marienbrücke, Ferdinandsbrücke). Topografisch gesehen blieb man zumeist auf das historische Stadtzentrum beschränkt. Prominente Ausreißer waren Schloss Schönbrunn, die Heurigenorte Grinzing und Sievering und natürlich der Prater als das bekannteste Vergnügungsareal der Stadt, dessen Unterhaltungspotenzial sich seit je vor allem nachts entfaltete. Uneingeschränkter Star dabei: das Riesenrad.

Mittlerweile beeindruckte die Stadt mit noch nie dagewesener Helligkeit. Im Jahr 1930 konnte man bereits auf ein beleuchtetes Straßennetz von fast 600 Kilometer Länge verweisen, womit Wien zu den bestbeleuchteten Großstädten der Welt gehörte. Hinzu kamen immer häufiger Leuchtreklamen. Rund 7300 Stück gab es damals bereits in der Stadt, die meisten davon im Prater und in den Hauptgeschäftsstraßen. Pioniere waren die großen Kinos, etwa das Lichtspieltheater im Prater mit seinem riesigen Dachaufbau, und die nicht weniger großen Warenhäuser, allen voran Gerngroß, dessen eindrucksvolle Nacht-Architektur die Mariahilfer Straße veredelte. Sie alle wurden zu Postkartenmotiven, die Palette der Nachtsujets wuchs beständig.

Neu war ab Mitte der 1930er Jahre auch die Höhenstraße. Ihre elektrischen Beleuchtungskörper zeichneten ein unübersehbares Lichtband in den dunklen Wienerwald. Gemeinsam mit dem schon von ferne sichtbaren Kahlenbergrestaurant hatte die austrofaschistische Politik – symbolisch wie real – einen bewussten Kontrapunkt zu den innerstädtischen Highlights gesetzt, den die Verleger der Bildpostkarten sodann effektvoll in Szene zu setzen wussten.

„Wien wird schön erst bei Nacht, dann zeigt’s ganz seine Pracht!“ Die populär gewordene Melodie von Robert Stolz brachte es auf den Punkt: Die Nacht hatte an Anziehungskraft gewonnen, sowohl bei Einheimischen als auch bei Touristen. Unter dem Label „Wien bei Nacht“ konnten Touristen mittlerweile eine Autobus-Rundreise zu all den bekannten Postkartenmotiven buchen: von der Oper durch die hell beleuchtete Innenstadt zum Riesenrad, von dort über den Donaukanal auf den Cobenzel und schließlich in den Heurigenort Grinzing. Längst war der nächtliche Blick auf die Metropole den Erwartungen entsprechend geformt, medial standardisiert und als solcher fixer Bestandteil eines sich modern und progressiv verstehenden Stadtimages.

Im Nationalsozialismus perfektionierte man in der Folge die Propaganda mit Licht auf bisher ungekannte Weise. Auch die Ansichtskartenverlage brachten, in Wien wie in anderen Städten, spezielle Karten auf den Markt, die das Hakenkreuz in Form einer aufgehenden Sonne vor bekannten Sehenswürdigkeiten zeigten. Parlament, Rathaus oder Burgtheater sollten so in „neuem Licht“ erstrahlen. Darüber hinaus zirkulierten Werbekarten bekannter Lokale, die ihre nachts beleuchteten Hakenkreuze prominent ins Bild rückten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das Nachtimage weiterhin Konjunktur. Der Westbahnhof war der erste Großbahnhof, der 1951 wieder in Betrieb genommen werden konnte. Eine eigene Postkartenserie mit Nachtansichten feierte den Neubau eindrucksvoll, zeigte die lichtdurchflutete Halle sowie die riesigen Uhren und Leuchtbuchstaben an den Außenfassaden symbolhaft als Rückkehr in die freie Welt. Andere Ikonen der Nacht folgten: das wiedereröffnete Burgtheater, die Staatsoper, der Ringturm.

Mit Wiederinbetriebnahme und Ausbau des Stromnetzes konnte das Wiener Stadtbauamt die Liste jener Sehenswürdigkeiten bedeutend erweitern, die mittels Effektbeleuchtung hervorgehoben werden sollten. Wobei sich in der Innenstadt ein Ort als besonders bildmächtig etablierte: der Beginn der Kärntner Straße nahe der Oper mit Blick Richtung Stephansplatz. Die Vielfalt der Leuchtreklamen, die hier die Fassaden emporkletterten, war spektakulär. Neben der roten Windmühle des bekannten Nachtlokals „Moulin Rouge“ strahlten zahlreiche bekannte Firmenmarken in die Nacht. Geradezu weltstädtisches Flair war zu spüren. Im internationalen Städtewettbewerb konnte Wien hier fast konkurrieren mit Piccadilly Circus oder Times Square.

Das Stadtbild war, zumindest in den innerstädtischen Bereichen und Geschäftsstraßen, dynamisch und bunt geworden, betont farbenfroh und zukunftsoptimistisch. Der Weg in die Konsum- und Wohlstandsgesellschaft war gesäumt von leuchtenden Glücksversprechen. Die Weihnachtsbeleuchtung der Geschäftsstraßen wurde zum beliebten Postkartenmotiv, ebenso der Christkindlmarkt am Rathausplatz. Und jenseits der Donau kamen mit UNO-City und Donauturm neue Bildsujets hinzu.

Bunte Mehrbildkarten feierten im ausgehenden 20. Jahrhundert noch einmal die Vielzahl der nächtlichen Sehenswürdigkeiten, brachten laufend neue Motiv-Kombinationen hervor. Bis die Ansichtskarte deutlich an Popularität verlor. Nur mehr wenige neue Nachtmotive kommen auf den Markt, als Werbekarten für Insider-Sehenswürdigkeiten wie Würstelstand oder Dritte-Mann-Kiosk etwa, oder – immer beliebter – als Juxkarten, die die Stadt in der Schwärze der Nacht imaginieren. Die zunehmende Touristifizierung gebiert ihren eigenen Humor. Allerdings: Sich größtmöglich zu reduzieren, nur mehr die nächtliche Silhouette der Stadt in freier Manier darzustellen, wie dies eine Bildpostkarte versucht, ist angesichts der zunehmenden Bilderflut vielleicht gar nicht die schlechteste Werbung für „Wien bei Nacht“.

Den bislang letzten motivischen Höhepunkt stellen seit Mitte der 2000er Jahre, angetrieben von der Umrüstung der städtischen Beleuchtung auf LED, Postkarten mit moderner Weihnachtsbeleuchtung dar. Neuartige Formen und Farben halten, zumindest temporär, im Stadtbild Einzug. Absolutes Highlight ist wohl die Festbeleuchtung am Graben, mit der die historische Einkaufsmeile, so das Stadtmarketing stolz, in „den größten Ballsaal der Welt“ verwandelt wird. Womit das nächtliche Wien-Image endgültig im 21. Jahrhundert angekommen ist.

 

Literatur

Reinhard E. Petermann: Das Nachtpanorama von Wien, in: Neues Wiener Tagblatt, 3.12.1908, S. 1–3.

Peter Payer: Die Eroberung der Nacht. Urbane Lichtinszenierungen, in: Wolfgang Kos (Hg.): Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930 (Ausstellungskatalog des Wien Museums), Wien 2010, S. 146–153.

Peter Payer: Lichter der Großstadt. Urbane Nachtinszenierungen im Wien des 20. Jahrhunderts, in: Máté Tamáska, Barbara Rief Vernay (Hg.): Wien – Budapest. Stadträume des 20. Jahrhunderts im Vergleich, Wien 2020, S. 389–409.

Peter Payer ist Historiker, Stadtforscher und Publizist. Inhaber eines Büros für Stadtgeschichte, Kurator für „Kommunale Infrastruktur“ im Technischen Museum Wien. Vorstandsmitglied des Vereins für Geschichte der Stadt Wien und des Österreichischen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung. Zahlreiche Artikel und Bücher zur Stadtgeschichte von Wien.

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