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Martina Nußbaumer, 19.7.2023

Ansichtskarten von Läden, Lokalen und Belegschaft

Posieren für das Geschäft

Ob allein vor dem als Ein-Frau-Betrieb geführten Delikatessengeschäft oder zu siebzigst mit Familie, Mitarbeiter:innen und Stammkund:innen vor dem eigenen Wirtshaus – um 1900 warfen sich immer mehr Geschäftstreibende in Pose und entdeckten die Ansichtskarte als attraktives Werbemittel.

Mehrere Dutzend gedruckte Karten und auf Postkartenpapier ausgearbeitete Fotografien in der Sammlung des Wien Museums erzählen von der Popularität eines neuen Genres, das bis in die 1930er Jahre weit verbreitet war: Formatfüllende Aufnahmen von Geschäften und Lokalen mit Fokus auf die vorderseitige Front, den Eingang und die Schaufenster, vor denen sich die dort arbeitenden Personen, bisweilen auch Kund:innen und zufällig vorbeikommende „Zaungäste“ positioniert haben; manchmal kommen auch die Kinder der Betreiber:innen-Familie und der Hund mit ins Bild. Überwiegend sind es gastronomische Betriebe und Lebensmittelgeschäfte, die vom neuen Medium Gebrauch machten. Aber auch Friseure, Installateure, Buchbinder oder Geigenbauer nutzten die günstiger werdenden fotografischen Möglichkeiten, um ihre Waren und Dienstleistungen vorteilhaft ins Bild zu rücken und durch ihre eigene Präsenz vor dem Geschäft gleichsam persönlich für die Qualität des Angebots zu bürgen.

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Breitere Leistbarkeit durch billige Produktion

Formal und produktionstechnisch unterschieden sich diese „Häuserfotografien“ (Karin Walter) bzw. „Ladenaufnahmen“ (Christina Natlacen), die einen nahen Blick auf die Geschäftsschilder und Auslagen auch kleinerer Einzelhandelsbetriebe und Wirtshäuser ermöglichen, stark von den zeitgleich zirkulierenden Geschäftskarten, wie sie etwa große, finanziell potente und überregional populäre Gastronomiebetriebe drucken ließen. Diese Karten, die oft auch über Postkartenverlage vertrieben wurden, waren in vielen Fällen aufwändig als Mehrbildpostkarten gestaltet – die Außenansicht des Betriebs mit Belegschaft und Gästen wurde dann meist durch Innenansichten und Porträts der Betreiber:innen ergänzt – und mit Ornamenten, Zierrahmen, Grußformeln und der Adresse des Betriebs sowie Verweisen auf die Hersteller:innen und Fotograf:innen bedruckt. Die meist in kleiner Auflage als Lichtdrucke oder „echte Fotografien“ auf Postkartenpapier ausgearbeiteten Ladenaufnahmen blieben hingegen oft unbedruckt; Hinweise auf die Adresse des abgelichteten Betriebs fehlen häufig oder wurden einfach aufgestempelt, Verweise auf Hersteller:innen und Fotograf:innen sucht man vergebens. Vielfach merkt man auch der Bildkomposition und Bildqualität an, dass rasch und billig produziert wurde. Doch genau diese Abstriche in Sachen Ausstattung und Qualität trugen dazu bei, dass Ansichtskarten vom eigenen Betrieb auch für kleine Unternehmen erschwinglich wurden.

 

Zwischen Beiläufigkeit und inszenierter Pose

Wie die in der Sammlung des Wien Museums erhaltenen Nahaufnahmen von Lokalen und Läden genau entstanden sind, lässt sich heute schwer rekonstruieren. Bei vielen von ihnen dürfte es sich um „beiläufige Fotografien“ (Christina Natlacen) handeln, die en passant von ambulanten gewerblichen Fotograf:innen angefertigt wurden. Diese reagierten nicht nur auf Anfragen, sondern durchkämmten um 1900, wie Karin Walter in ihrer Studie „Postkarte und Fotografie“ (1995) beschreibt, auch eigenständig ganze Straßenzüge und boten – mutmaßlich ohne große Vorankündigung – Aufnahmen von Häusern und Betrieben an. Die Anwesenden wurden in diesem Fall aufgefordert, sich bei Interesse umgehend zum Posieren ans Fenster oder ins Freie zu begeben, ohne viel Zeit, sich zurechtzumachen; viele Personen schauen auf den erhaltenen Karten vielleicht auch deshalb etwas verschreckt in die Kamera. Auch die Fotograf:innen selbst hatten offenbar nicht immer genug Zeit, um den Bildausschnitt sorgfältig zu wählen und die posierenden Personen ideal zu platzieren. Manchmal fehlt ein klarer Bildfokus und werden – vielleicht auch aus Gründen der Maximierung der potenziellen Zahl der Abnehmer:innen der Aufnahmen – gleich zwei oder drei benachbarte Betriebe auf einmal fotografiert. Mitunter sind die Füße der Posierenden oder Personen am Rand des Bildausschnitts abgeschnitten. Und gelegentlich passiert Ungeplantes, wie dass eine posierende Person mitten in der Aufnahme dem Fotografen den Rücken zukehrt oder zusätzliche „Zaungäste“ ins Bild kommen, die die Posierenden interessiert beobachten oder gleich selbst mitposieren.

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Solchen eher rasch entstandenen Bildern stehen mutmaßliche Auftragsarbeiten einzelner Betriebe gegenüber, die von höherem Zeitaufwand bei der Inszenierung – und dem Versuch der Maximierung der Werbebotschaft – zeugen. Für eine um 1910 entstandene Aufnahme von „Franziska Hirschel’s Bürgerlichem Gasthaus“ im 18. Bezirk posieren etwa 20 extra zurechtgemachte Personen in bester Dienst- bzw. Sonntagskleidung vor dem Wirtshaus; drei Männer halten demonstrativ ein Glas Bier in der Hand, ein Mann drei Spielkarten. Auf einer anderen Wirtshauskarte – einer Ansicht der „Floridsdorfer Weinzentrale“ aus der Zeit um 1930 – halten drei der 18 Posierenden auch Werbeaufsteller und Kreidetafeln mit den Preisen der aktuell angebotenen Speisen und Weine ins Bild.

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Die im Hinblick auf die Zahl der versammelten Personen aufwändigste Inszenierung, die im Wien Museum erhalten blieb, ist eine Ansicht des „Národni Hostinec“ bzw. der „Protiviner Bierhalle“ in der Ottakringer Straße aus der Zeit um 1910: Rund 70 fein zurechtgemachte Personen posieren hier, sorgfältig in einer langen Reihe symmetrisch links und rechts des Eingangs gruppiert; die mutmaßliche Eigentümerfamilie mit Kindern und die durch Dienstkleidung gekennzeichnete Belegschaft in der Mitte, links und rechts die mutmaßlichen Stammgäste. Je mehr Personal und je mehr Gäste man vor einem Wirtshaus versammeln konnte, desto höher war – so wohl das Kalkül – das Prestige des Betriebs: Die Zahl der Mitarbeiter:innen und Gäste sollte für die Geschäftstüchtigkeit, Qualität und Beliebtheit des Wirtshauses sprechen und in diesem Fall – verstärkt durch den tschechischsprachigen Adressaufdruck auf der Rückseite – zusätzlich wohl auch die Bedeutung dieses Orts als sozialer Treffpunkt für Tschech:innen in Wien herausstreichen.

Mehr Funktionen als reines Marketing

Aufnahmen wie diese dienten jedoch nicht nur als Werbemittel, sondern erfüllten, wie Karin Walter betont, auch eine wichtige private Erinnerungsfunktion: Viele Personen hatten über Häuser- und Ladenfotografien das erste Mal die Gelegenheit, sich ablichten zu lassen; oft waren diese Fotos auch die ersten und einzigen Bilddokumente, die es vom eigenen Geschäft gab, weshalb man sie gerne auch selbst aufbewahrte. Von dieser privaten Erinnerungsfunktion zeugen auch Notizen auf den Rückseiten einiger Karten im Wien Museum – Notizen, die darauf verweisen, dass auf der Vorderseite Familienmitglieder, Bekannte oder man selbst und der eigene Betrieb zu sehen sind. „Sende dir eine Ansicht von unserem Geschäft“, ist etwa auf einer Karte der Zuckerbäckerei Adolf Fischer in der Engerthstraße zu lesen, die der Betreiber an seine Mutter in Nové Sedliště/Neu Zedlisch adressierte. Diese Karte – auch wenn sie nie abgeschickt wurde – verweist zugleich darauf, dass die Ladenaufnahmen neben ihrer Werbe- und Erinnerungsfunktion auch eine wichtige Funktion als privates und geschäftliches Korrespondenzmedium erfüllten.

Ab den 1930er Jahren dünnt die Zahl der Ladenaufnahmen mit versammelter Belegschaft in der Sammlung des Wien Museums deutlich aus. Mit der Verbreitung und dem Günstigerwerden von Fotoapparaten, so Karin Walter, verlor die Ansichtskarte ihre Bedeutung als privates Erinnerungsmedium. Lediglich spezielle Geschäfte und Gasthäuser mit größerer Kund:innen-Reichweite ließen weiterhin Ansichtskarten als Werbemittel produzieren, wobei man in der Gestaltung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Wege einschlug.

Als oft einzige Bilddokumente von längst verschwundenen Betrieben – und im Ansichtskartenhandel entsprechend teuer – sind die Laden- und Lokalaufnahmen aus dem frühen 20. Jahrhundert heute rare Dokumente der damaligen Geschäftswelt. Sie geben Einblicke in das zeitgenössische Waren- und Dienstleistungsangebot, in die Gestaltung von Geschäftsschildern, Werbetafeln und Schaufenstern sowie in die Werbestrategien zur Anpreisung bestimmter Waren und Dienstleistungen. Über die vor den Geschäften und Lokalen posierenden Menschen und deren Positionierung zueinander erzählen sie auch von Betriebsgrößen und Firmenstrukturen, von innerbetrieblichen sozialen und Geschlechter-Hierarchien, von Strategien der Inszenierung von Seriosität und Authentizität. Die zwischen neugieriger Offenheit und Reserviertheit changierenden Blicke der Fotografierten lassen nicht zuletzt auch ein wenig erahnen, dass die Interaktion mit den Fotograf:innen und das Posieren „für die Ewigkeit“ – ob auf eigenen Wunsch, den der Vorgesetzten oder den der Stammwirt:innen – emotional höchst unterschiedlich erlebt wurde.

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Literatur

Christina Natlacen: Beiläufiges Fotografieren, in: postkarten.bonartes.org, 5. Oktober 2021.

Karin Walter: Postkarte und Fotografie. Studien zur Massenbild-Produktion, Würzburg 1995, S. 133-140. 

Für anregenden Austausch zu den Themen dieses Textes danke ich Sándor Békési und Michael Ponstingl.

Martina Nußbaumer studierte Geschichte, Angewandte Kulturwissenschaften und Kulturmanagement in Graz und Edinburgh und ist seit 2008 Kuratorin im Wien Museum. Ausstellungen, Publikationen und Radiosendungen (Ö1) zu Stadt- und Kulturgeschichte im 19., 20. und 21. Jahrhundert, Geschlechtergeschichte sowie zu Geschichts- und Identitätspolitik.

 

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