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Ilse Helbichs Wien der Zwischenkriegszeit – Teil 10
Tramway III
Einige Jahrzehnte nach ihren Kindererinnerungen an die Tramway, als der 39er die Sieveringer nicht mehr bis zum Schottentor beförderte, und vor der Zeit als Autobusse die Aufgaben der Straßenbahn übernahmen, pendelte ein Triebwagen der Linie 39A von der sogenannten „Kreuzung“ am Anfang der Sieveringer Straße bis zur anderen Endstation in Obersievering auf einer eingleisig geführten Spur in langen Intervallen hin und her.
Jedes Mal bevor der Fahrer die Endstation in Obersievering erreichte musste er je abbremsen. Dann kletterte er aus dem Wagen und ging auf eine mächtige Gans zu, die behäbig und ohne sich zu rühren auf einer der Schienen saß. Der Fahrer bückte sich, breitete seine Arme aus und schob die unter den Leib der Gans; dann trug er sie, die gewiss sechs oder sieben Kilo wog, die wenigen Meter bis zum Straßenrand und setzte sie dort behutsam aufs Pflaster. Während dieser Prozedur hatte sich die Gans nicht bewegt und keinen Ton von sich gegeben.
Jetzt erst hatte der Fahrer Zeit für seine eigentlichen Verpflichtungen. Er nahm einen langen Stab zur Hand, der neben dem Einstieg des Waggons befestigt war, und mit dessen Hilfe schob er den schräg liegenden Bügel der die Elektrizität führende Oberleitung mit dem Wagenmotor verband, auf die entgegengesetzte Seite. Dann stieg der Mann wieder ein, drehte aus dem alten Führerstand eine große Metallkurbel heraus und trug die quer durch den Waggon zum Führerstand auf der gegenüberliegenden Seite. Damit war das Gefährt wieder zur Abfahrt bereit. Noch ein Klingelton und schon glitt die Tramway mit einigen Halten an den jeweiligen Stationen langsam ihrer anderen Endstelle entgegen.
Kaum war die Elektrische abgefahren, erhob sich langsam die Gans und watschelte auf ihren Lieblingsplatz, der Schiene, zurück, wo es durch die Sonnenbestrahlung wahrscheinlich wärmer war als auf den kalten Pflastersteinen. Und jetzt war beinahe eine halbe Stunde Zeit, bis der nächste 39er anrollen würde und die Gans konnte es sich behaglich machen.
Dieses Ritual wiederholte sich während des ganzen Tages. Es war nicht herauszufinden, bei welchen der ebenerdigen Häuser die Gans ihren Übernachtungsplatz hatte, denn von einem Stall war nirgend wo zu sehen.
Und dann war diese Gans von einem Tag auf den anderen nicht mehr da, verschwunden.
Wenn die Einheimische auf Sieveringer Spaziergängen ihren auswärtigen Freunden diese Geschichte erzählte, so schmunzelten die und sprachen von einer hübschen Anekdote voll Alt-Wiener-Scharm.
Aber dann führte die Wienerin ihre Gäste zum Denkmal dieser Gans, das ihr die pietätvollen Anrainer gesetzt haben. Der hüfthohe Steinsockel trug eine Inschrift, die die Historizität der Gans und ihrer eigentümlichen Gewohnheit bezeugte. Und auf diesem Stein ruhte in Bronze gegossen die Gans, die freilich in ihrem Abbild viel schlanker und eleganter aussah, als sie im Leben gewesen war.
Der Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Textes aus dem Buch „Vineta“ von Ilse Helbich, das 2013 im Literaturverlag Droschl erschienen ist. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Diese Texte daraus sind bereits erschienen:
Eislaufplatz
Gassenbuben
Waschtag
Eismann
Spucknapf, Zigarrenrauch
Stadtmusiken
Der Laternenanzünder
Die Tramway
Tramway II
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