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Michael Ponstingl, 4.8.2023

Fotopostkarten „Wiener Straßenleben“

Das Phänomen Serie

Einzelne Aufnahmen von monumentalen Sehenswürdigkeiten sind die Klassiker unter den Ansichtskarten. Dass allerdings gerade Fotopostkarten vom Wiener Straßenleben Betrachter:innen in ihren Bann zu ziehen vermögen, zeigt eine Serie aus den Jahren 1906/07.

Serielle Verfahren finden sich in so unterschiedlichen Lebensbereichen wie der Ökonomie, der Wissenschaft, den (Massen-)Medien und der Kunst. Bei aller Verschiedenheit existiert eine grundlegende Gemeinsamkeit: Eine Serie besteht immer aus mehreren Elementen, die in einen Zusammenhang gebracht werden, wodurch in eine unübersehbare Fülle eine mögliche Ordnung, eine Struktur kommt. Das In-Verbindung-Treten, das Beziehungsgefüge kann ganz unterschiedlich Gestalt annehmen. Die Frage, ob dabei das Prinzip der Wiederholung notwendig ein Konstituens von Serien bildet oder nicht, beantwortet die Wissenschaft divergent. Gleichwohl sind Serien oftmals die eine oder andere Form einer Wiederholung inhärent, was von quasi-identischen Kopien bis zu einem Widerspiel mit der Variation reicht (wiederholt und zugleich variiert wird der Inhalt, das Thema, die Form, die Struktur, das Konzept oder die An-Ordnung). Bei Postkarten spielen Serienphänomene gleichfalls eine gewichtige Rolle. Exemplifiziert sei das an der fotografischen Ansichtskartenserie Wiener Straßenleben.

In der Sphäre der Bilder steht das Konzept der Serie dem des Einzelbildes entgegen. Das Einzelbild behauptet – wenigstens implizit –, in keiner zeitlichen oder räumlichen Verbindung zu anderen Bildwerken zu stehen, und es kultiviert die Vorstellung von dem einen „fruchtbaren Augenblick“. Demgegenüber schreibt der Medienwissenschaftler Jens Ruchatz dem Prinzip der Serie immenses Beschreibungspotenzial zu, geht es um die Entfaltung und den Fortgang der Fotografie im 19. Jahrhundert. Das betrifft die Produktion ebenso wie die Vermarktung, den Konsum, die Präsentation und die Rezeption. Auf einige dieser Aspekte sei hier näher eingegangen.

Die Ansichtskartenserie Wiener Straßenleben entstand um 1906/07. Von der Motivik her stellt sie eine Besonderheit vor. Im Gegensatz zu den sonst auf Postkarten gängigen Stadtdarstellungen (Repräsentationsbauten, Veduten, Straßenzüge, Geschäfte, Infrastrukturen) versammelt sie Straßenszenen, die meisten davon als Schnappschüsse realisiert. Die Aufnahmen zeigen Menschen, die auf den Straßen und Plätzen Waren und Dienste anbieten, Fuhrwerke lenken und Karren ziehen, städtische Transportmittel nutzen, Rad fahren, Pferde versorgen, Unrat beseitigen, öffentliche Gartenanlagen pflegen, Laternen putzen, auf Baustellen arbeiten, Straßenbahnschienen warten, flanieren, marschieren, stehen, kauern, sitzen, schlafen, Unfug treiben – und schlussendlich, selbstbezüglich, fotografieren. Es überwiegen Menschen in Berufskleidung, die auf der Straße arbeiteten oder ebenda leben mussten. Darin schwingt noch die Tradition der Wiener-Typen-Darstellungen nach, in der Fotografen wie Otto Schmidt, Emanuel Wähner oder Emil Mayer stehen, ging aber weit über die eingesessenen, ikonisch gewordenen Personagen wie Fiaker, Wasserer, Werkelmann, Wäschermädel oder Hundeverkäufer hinaus. Bürgerliche, die im Gegensatz zu den sogenannten unteren Klassen über einen Zugang zum Produktionsmittel Fotografie verfügten, schufen und bestätigten sich da ein Weltbild jenseits sozialer Verwerfungen, in dem weiterhin ständische Residuen hausten und also die soziale Ordnung noch funktionierte.

Wer die Serie lichtbildnerisch verantwortete, weiß man nicht. Ich nehme an, es handelte sich dabei um einen Amateur oder eine Amateurin (oder gar um ein Kollektiv), denn die Ansichtskarten tragen keine Zeichen, die auf eine kommerzielle Produktion hindeuten. So fehlt jedwede Form einer Verlagsangabe, obgleich Verlagshäuser aus Gründen des Urheberrechts, der Eigenwerbung und des Vertriebs ein genuines Interesse an einer Namensnennung hatten. Zudem finden sich keine Annoncen oder Besprechungen in Tages- und Wochenzeitungen. Gewerbliche Hersteller*innen setzten zumeist aufs Abkonterfeien stadtbekannter Architekturen oder Persönlichkeiten, was ihnen risikoärmer im Hinblick auf ihre bevorzugte Klientel der Tourist*innen erschien. Und sie besorgten – weil kostengünstiger und im Rückgriff auf standardisierte Formate – eine effiziente mechanisch-serielle Reproduktion in fotomechanischen Druckverfahren wie beispielsweise dem Lichtdruck oder als maschinelles Abzugsverfahren auf Bromsilbergelatinepapier (die „Kilometerphotographie“). Die Karten des Wiener Straßenlebens hingegen sind auf teurem Glanzkollodiumpapier abgezogen, wie es bevorzugt Private verwendeten. Meiner Beobachtung nach kursier(t)en nur geringe Stückzahlen: Von den mir geläufigen 61 Motiven kenne ich nur drei oder vier in zweifacher Ausführung. Auch die hohe Varianz, was die Gestaltung des auf der Bildseite aufgebrachten Serientitels (verschiedene Schriftschnitte, Farben, Orthografie) angeht, spricht für eine Einzelfertigung, erzeugt nicht mit der Buchdruckerpresse (was ja eine höhere Auflage implizierte), sondern per Heißfolienprägung oder einem Handapparat.

Hinsichtlich der Beschaffenheit der Serie gilt Folgendes: Sie ist erstens thematisch gebunden (was der Titel verkündet), zweitens nichtnarrativ (jede Aufnahme steht für sich, sohin sind die Karten in keiner obligatorischen Reihenfolge zu rezipieren) und schließlich drittens beliebig erweiterbar. Das Handhaben der Serialisierung weist gleichfalls mehr auf fotoästhetische Ambitionen denn auf unternehmerische Gewinnmaximierung hin. Ein Serientitel postuliert einen größeren Zusammenhang, hier ein typologisches Panorama. Das darf als künstlerische Aussage genommen werden, im Kontext von Ansichtskarten aber oft auch als verlegerische Editionsstrategie, um Käufer*innen neugierig auf und kaufwillig für das Gesamte zu stimmen. Da allerdings das Straßenleben keine diskriminierende Nummerierung besitzt, bleibt man über den Umfang der Serie im Ungewissen. Überdies lassen sich die Karten damit nicht eindeutig und unkompliziert identifizieren: ein beträchtliches Hindernis, was die professionelle Organisation und Bewältigung der Nachfrage angeht. Um einem solchen Ungemach vorzubeugen und um ihr Programm rationell zu verwalten, versehen Verlage deshalb gerne ihre Karten, sobald ihr publizistisches Tun eine bestimmte kritische Größe übersteigt, mit einer fortlaufenden Nummer (Numerus Currens). So kommen in manchen Ansichtskarten gleich mehrere Serien zueinander: einmal die inhaltliche Serie, dann die vom Administrativen regierte Serie des Verlagsprogramms und zuletzt die vervielfältigten Stückzahlen der Auflage.

Betrachtet man die Wiener Straßenleben-Ansichtskarten eingehender, gewahrt man weitere serielle Prinzipien. So ist es bei einem Shooting üblich, mehrere Bilder aufzunehmen, gewissermaßen die Gunst der Stunde zu ergreifen, um die Aussicht auf gelungene Aufnahmen zu steigern. Eine solche Praxis seriellen Fotografierens lässt sich im Straßenleben desgleichen entdecken, von einigen der Locations und Situationen – etwa vom Fotografen, Straßenkehrer oder der Judengasse – laufen verschiedene Ansichten um. Das vorliegende Material erschließt punktuell auch Einsichten ins Werden der Serie. So zirkulieren ab und an dieselben Aufnahmen auch ohne Serientitel, oder sie firmieren unter einem anderen, gleichwohl typografisch identisch gestalteten Serientitel, nämlich Wiener Straßenpflege.

Die hier angeführten Momente von Serialisierung stammen alle aus der Produktion und Vermarktung. Aber auch aufseiten der Konsumtion und Rezeption, also dem Sammeln, Tauschen und Kommunizieren, tat und tut sich diesbezüglich etwas. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein folgender Beitrag von Eva Tropper aufgreifen wird aufgreift.

Literatur

Michael Ponstingl: Straßenleben in Wien. Fotografien von 1861 bis 1913 (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 2), 2., durchges. Aufl. Wien 2008.

Michael Ponstingl: Das Wiener Straßenleben als fotografische Postkartenserie – oder: vom Serien-Basteln, in: Eva Tropper, Timm Starl (Hg.): Format Postkarte. Illustrierte Korrespondenzen, 1900 bis 1936 (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 9), Wien 2014, S. 89–109.

Simon Rothöhler: Theorien der Serie zur Einführung, Hamburg 2020.

Jens Ruchatz: Ein Foto kommt selten allein. Serielle Aspekte der Fotografie im 19. Jahrhundert, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 18 (1998), 68/69, S. 31–46.

 

Michael Ponstingl studierte Kommunikationswissenschaften, Germanistik und Kunstgeschichte und publiziert zur Geschichte und Theorie der Fotografie. 1994-1996 Redakteur und daraufhin bis 2000 Herausgeber der Zeitschrift Eikon. Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst; 2000-2010 Kurator für Fotografie an der Albertina, seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Photoinstitut Bonartes.

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Kommentare

Redaktion

Liebe Brigitte Rieser, danke für Ihr Feedback! Wir arbeiten laufend an der Erweiterung der Online Sammlung, aber aktuell ist tatsächlich erst eine Karte aus der Serie darin enthalten. Auch in der physischen Sammlung des Wien Museums finden sich nicht alle Karten der Serie: Wie Sie den Bildunterschriften entnehmen können, sind diese tw. im Besitz von Michael Ponstingl, Helfried Seemann oder der Albertina. Freundliche Grüße aus der Redaktion

Brigitte Rieser

Ein für mich besonders interessanter beitrag. Kommen alle bilder der serie irgendwann in die online-sammlung? Jetzt gibt es erst eines.

lg, Brigitte