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9.4.2021

Ilse Helbichs Wien der Zwischenkriegszeit – Teil 12

Verwandlungen

In dem Buch „Vineta“ erinnert sich die Schriftstellerin Ilse Helbich an ihre Kindheit in den 1920er und 1930er Jahren. Ergänzend dazu hat sie diesen neuen Text für das Wien Museum Magazin geschrieben: Über Werbung am Himmel und Lichtreklame in der Nacht.

Die Tage eines Kindes verlaufen gewöhnlich mit kleinen Abwechslungen und Aufregungen, jedoch immer in einem gewohnten Rahmen. Aber manchmal zeigt sich plötzlich am  wolkenlosen Himmel ein kleines einmotoriges Propellerflugzeug. Tief fliegend veranstaltet es dort oben wilde Kurven und kleine Abstürze. Aus seinem Auspuff steigt weißer Rauch. Dann ist der Flieger wieder verschwunden, doch jetzt steht am Himmel in großer Lateinschrift ein einziges Wort: ODOL.

Das Kind starrt zum Himmel hinauf – was soll das bedeuten. Die Schrift dort oben ist eine Ankündigung. ODOL – das klingt wie der Name eines fremden Gottes oder eines schrecklichen Herrschers. Ein Bild steigt auf – ein mächtiger schwarzer Mann, sein nackter Körper ist bekleidet mit Perlenschnüren, in seiner Hand hält er einen Speer…

Aber warum steht dann ODOL auch auf der Zahnpastatube, dem wichtigsten Utensil zum morgendlichen und abendlichen Zähne-Reinigen, das ihre Mutter so streng kontrolliert?

Verwirrt schaut das Kind hinauf zum Himmel. Dort oben hat sich die bedeutungsvolle Schrift in kleine weiße Wölkchen aufgelöst, die langsam zergehen.

Am folgenden Abend wird das Mädchen ganz zufrieden seine Zähne putzen und die Schrift am Himmel schon wieder vergessen haben.

Auch an den Abenden und schon an späten Winternachmittagen geschieht eine Verwandlung mit der Stadt. Wenn einer mit der Straßenbahn jetzt stadtwärts fährt – mit „Stadt“ bezeichnete der gelernte Wiener immer die Innenstadt – ist das was er sonst schon aus Gewohnheit gar nicht mehr beachtete: die Häuserfronten mit den vielen Fenstern, hinter denen die Menschen wohnen, essen und schlafen und unten die kleinen Läden mit ihren bescheidenen Auslagen, sie sind alle verschwunden. Die gewohnten Straßen und Plätze sind jetzt nur mehr der Tageserinnerung bekannt. Denn wo einmal Häuser standen ist jetzt nur ein Lichterspiel. Lichtsäulen in grellen Farben steigen hoch in den Himmel, rote, blendend weiße und blaue Lichtbalken legen sich quer. Wenn sie nur alle feststünden und so ein starres Gerüst für etwas Unbekanntes bilden würden wäre es schon recht. Jedoch in zitternden Bewegungen kriechen da und dort Lichtfunken hoch, erlöschen plötzlich wieder und klettern schon wieder hoch, sodass da überall ein bebendes Flirren ist.

Irgendwo, hoch oben tauchen fette Druckbuchstaben auf und bilden Wörter die schon wieder ausgelöscht werden durch ein folgendes Wort, schneller als das Kind sie lesen kann. Die Mutter erklärt, dass dies Zeitungsnachrichten seien, Neuigkeiten aus Politik oder Sport.

Es gibt auch ganze Leuchtbilder die, während die Straßenbahn vorbeifährt, riesengroß in der Luft schweben: Hier das Profil eines Mannes, er hat eine grellweiße Zigarette im Mund, von der bläulicher Rauch aufsteigt. Dort ein überschäumender Bierkrug – auch dessen Abbild leuchtet auf und verschwindet und ist schon wieder da.

In der Innenstadt steigern sich Licht und Farben zu einer wahren Orgie. Der Himmel ist ausgelöscht, der Mond nicht mehr da, und tief unten ziehen als schwarze Schatten, als Schemen, die vorbei, die am Tage Fußgänger und einfach Menschen waren.

Was die Autorin als junge Frau später in alten Hollywoodfilmen etwa bei Ablichtungen des nächtlichen Broadway sah, diese bis ins Rauschhafte gesteigerte Begeisterung für eine andere, im Lichterglanz schon geahnte neue Wirklichkeit hat mit ihrem Jugenderlebnis nur das äußere Bild gemeinsam.

Und wie kam es, dass dieser Überschwang – ausgelöst von den neuen Möglichkeiten der Elektrik – so allmählich verschwand und auch nach den in Schwärze getauchten Verdunkelungsnächten des letzten Krieges nicht mehr wieder heraufstieg?

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Textes aus dem Buch „Vineta“ von Ilse Helbich, das 2013 im Literaturverlag Droschl erschienen ist. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Diese Texte daraus sind bereits erschienen:
Eislaufplatz
Gassenbuben
Waschtag
Eismann
Spucknapf, Zigarrenrauch
Stadtmusiken
Der Laternenanzünder
Die Tramway
Tramway II
Tramway III
Ratschenbuben

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