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2.5.2021

Ilse Helbichs Wien der Zwischenkriegszeit – Teil 13

Fensterpolster

Für das Buch „Vineta“ hat die Schriftstellerin Ilse Helbich Erinnerungen an ihre Kindheit in den 1920er und 1930er Jahren niedergeschrieben. Den folgenden Text daraus hat sie für das Magazin um einige Passagen ergänzt: über das Hinausschauen aus dem Fenster – und die dazugehörige bequeme Abstützung.

Zu jeder anständigen Zimmerausstattung gehören Fensterpolster. Es sind längliche akkurat vierkantige Matratzen, die zwischen Außen- und Innenfenster geschoben werden, um das Eindringen von Zugluft zu verhindern– vorm »Ziehen« haben nämlich alle Angst. Die Fensterpolster bei ihr Zuhause sind, wie es sich gehört, so fest es nur geht, mit Rosshaar gestopft; sie stecken in schneeweißen Leinenüberzügen als Zeichen einer Mühen nicht scheuenden Ordentlichkeit, und diese Überzüge müssen eben deswegen oft gewechselt werden.

Als sie schon ein Schulmädchen ist, wird dieses Frischüberziehen der Fensterpolster oft auf sie abgeschoben. Sie hasst diese Arbeit, denn es ist ihr fast unmöglich, den starren Polster in seinem Überzug unterzubringen–und danach beginnt erst das Zuknöpfen der viel zu vielen Zwirnknöpfe, die die Weißnäherin dicht an dicht angebracht hat!

Nach der Plackerei gehen sie die Fensterpolster nichts mehr an. Ihre Mutter auch nicht, ja nicht einmal die Mizzi, das Mädchen, weil hier keiner auf den Gedanken käme – oder im Fall der Mizzi auf den Gedanken kommen darf –, bei weitgeöffneten Fenstern die Ellenbogen bequem auf den jetzt ihren wahren Zweck erfüllenden Fensterpolster gestützt, sich dem Hinausschauen hinzugeben. Wenn sie an lauen Abenden oder an einem Sonntagnachmittag auf ihrem Fahrrad eine dem »Gürtel« nahe Straße entlang fährt, sieht sie eine ganze Zeile regungsloser Torsi an den Fenstern lümmeln–meist sind es Frauen, manchmal ist ein Männerkopf daneben und manchmal sitzt eine Katze auf dem Fensterbrett, die schaut aber nicht hinaus.

Worauf alle diese Leute starren, ist für das Mädchen nicht zu erkennen, denn nur wenige Fußgänger beleben das Bild, und hie und da ein Fuhrwerk. Das ist wie eine nicht zu deutende Bewegung in der herrschenden Ruhe–vielleicht war es das, diese Sicherheit gewährende Unveränderlichkeit, denkt sie jetzt als Alte. Vielleicht war das damals, dieses Hinausstarren auf etwas das sich bewegte, dasselbe wie in einer späteren Epoche die hypnotische Wirkung, die das in einer Küchenecke oder an einer Wohnzimmerwand vor sich hinplappernden Fernsehgerät auslöste, das mit dem Auf und Ab seine wechselnden Bilder erzeugte.

Und wie später das Fernsehen in seinen Serien immer neue Wendungen einer fortlaufenden Geschichte lieferte, so wurde die hinausschauende Frau am offenen Fenster manchmal belohnt durch ein Ereignis in nächster Nachbarschaft. Zum Beispiel: Da läutete einer am gegenüber liegenden Haustor. Die Beobachterin wusste nicht welche Glocke gedrückt worden war; jedoch war sie sich sicher: der unbekannte Herr stieg jetzt herauf in den 2. Stock und klopfte dort an der Wohnungstür von Fräulein Huber. Und jetzt musste man nur noch 5 Minuten warten, dann kam das Fräulein Huber mit ihrem neuesten Galan aus dem Haustor und jetzt konnte man raten ob sie in den Eissalon gingen oder ins kleine Café in der nächsten Gasse. Aber bedenklich war es schon, dass das Fräulein Huber in einem Jahr jetzt schon mit dem dritten Herrn ging. Und dieses Faktum würde morgen früh am Gang bei der Bassena zu langen Erörterungen mit der Nachbarin führen.

Ja, in der Zeit der 30erJahre waren die Fensterpolster so etwas wie ein Realsymbol der sozialen Unterschiede.

Und warum ist diese schöne Sitte des Fensterguckens, wobei die Fensterpolster eine wichtige Rolle spielten, später so gänzlich verschwunden? Hatte da wirklich nur das Fernsehen daran schuld?

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Textes aus dem Buch „Vineta“ von Ilse Helbich, das 2013 im Literaturverlag Droschl erschienen ist. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Diese Texte daraus sind bereits erschienen:
Eislaufplatz
Gassenbuben
Waschtag
Eismann
Spucknapf, Zigarrenrauch
Stadtmusiken
Der Laternenanzünder
Die Tramway
Tramway II
Tramway III
Ratschenbuben
Verwandlungen

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