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Eva Tropper, 8.9.2023

Geschichte des privaten Ansichtskarten-Sammelns

Erfahrungen von Raum

Das Sammeln von topografischen Ansichtskarten sprach um 1900 ein junges, bildungsbereites – und sehr weibliches – Publikum an. Mit dem Anlegen eines Postkartenalbums konnten spielerisch Erfahrungen von Raum und räumlicher Mobilität erprobt werden.

Ansichtskarten wurden um 1900 zum Teil einer privaten Sammelpraxis, die zunächst vor allem auf die erhöhte postalische Zirkulation des Mediums reagierte. Einander Mitteilungen per Ansichtskarte zuzuschicken hatte sich seit Einführung der Korrespondenzkarte 1869 schrittweise etabliert. Doch es war insbesondere die formale Annäherung der Ansichtskarte an fotografische Bilder ab den Jahren 1897/98, die dem Sammeln dieser Objekte Auftrieb verschaffte. Zum einen wurde damit an das Sammeln von Fotografien – etwa im Carte-de-visite-Format – angeknüpft, das in bürgerlichen Haushalten bereits verankert war. Zum anderen können Ansichtskarten als ein Übergangsmedium zum späteren Boom des Knipsens verstanden werden: Durch ihre Omnipräsenz – etwa an Ausflugs-Destinationen oder auf Reisen – ermöglichten sie zu dokumentieren, wo man sich aufhielt und von überallher visuelle Erinnerungen zusammenzutragen.

Nach den erhaltenen Postkartenalben zu urteilen, waren topografische Ansichten für Sammelnde um 1900 bei Weitem am attraktivsten. In der Tat tauchten Ansichtskarten zu einem historischen Zeitpunkt auf, als räumliche Mobilität für immer mehr Menschen möglich geworden war und Vorstellungen davon, wie es anderswo aussah, immer wichtiger wurden. Im Lauf des 19. Jahrhunderts war die Erde in zuvor nicht dagewesenem Maß durchmessbar und erfassbar geworden; ein Denken in globalen Dimensionen wurde zu einem neuen gesellschaftlichen Bezugssystem, das nicht zuletzt über Bilder eingeübt wurde. Wichtige Medien einer Vermittlung räumlicher Bezüge waren im ausgehenden 19. Jahrhundert neben Zeitschriften und Buchpublikationen etwa bereits Kaiserpanoramen oder öffentliche Dia-Vorträge gewesen, die topografische Ansichten zu übergreifenden Serien zusammenstellten.

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Das Sammeln von Ansichtskarten transferierte solche Erfahrungen in den privaten Raum. So bot das Anlegen eines Postkartenalbums die Möglichkeit, spielerisch Erfahrungen von Raum und Räumlichkeit zu erproben. Die Albenstruktur – zwei bis vier, manchmal sogar bis zu sechs Karten pro Seite – erlaubte, Ansichten in einem flächigen Neben- und Nacheinander zu sehen und sie auf bestimmte Weise zu strukturieren. Dabei wurden die Objekte nicht eingeklebt, sondern in vorgestanzte Schlitze eingefädelt, wodurch sie mobil und offen für immer neue Ordnungen blieben. Zum Erfolg solcher Praktiken trug bei, dass Konsumkultur und populärwissenschaftliche Ambitionen dabei eine enge Verbindung eingingen. Immer neue Alben und andere Sammelbehelfe wurden marktgängig, die Titel wie „Postkartengrüße aus Nah und Fern“ oder „Welt-Ordner für illustrierte Postkarten“ trugen und den Erwerb geografischen Wissens versprachen. Die mitunter schmuckvolle Ausgestaltung der Alben hatte dabei auch eine Repräsentationsfunktion – lagen diese doch oft im Wohnraum auf, um gemeinsam mit Besuchenden betrachtet zu werden.

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Zielpublikum waren bildungsbereite, oft junge Menschen aus dem bürgerlichen Milieu. Für die Zeit um 1900 lässt sich ein starker weiblicher Anteil unter den Postkarten-Sammler:innen beobachten, für die diese Praxis ein durchaus emanzipatorisches Potenzial barg. Einerseits erlaubte das Medium, mit anderen in Austausch zu treten und – über das eigene, im Fall weiblicher Biografien oft enge Lebensumfeld hinaus – Kontakte zu knüpfen. Erhaltene Ansichtskarten belegen solche Sammelbeziehungen. Andererseits war das Verwahren und Archivieren von Ansichtskarten eine Möglichkeit, sich zeitgenössische Wissensformen anzueignen und darin – ebenso wie die männlichen Kollegen – Expertise zu erlangen.

Zwei Postkartenbestände aus dem Besitz des Wien Museums können dabei als Beispiele dienen. In beiden Fällen handelt es sich um äußerst ambitionierte Sammlungen, in denen sich übergreifende räumliche Bezugssysteme abbilden. In beiden Fällen sind Frauen die handelnden Akteurinnen gewesen.

Erhalten sind drei Alben der Sammlerin Helene Reuss, einer wohl im gehobenen Bürgertum situierten, jungen, verheirateten Frau aus Bílina/Bilin im heutigen Tschechien, sowie zehn Alben der Wienerin Else Erxleben, Frau eines höheren Beamten der Reichsbahn, für deren Aufbewahrung die Albumhalterin sogar eigene Sammelschränke verwendete. Beide Sammlungen stellen bereits in ihrem äußeren Erscheinungsbild den Anspruch auf Wissensgenerierung: Die einheitliche Struktur der Bände, die geprägten Titel und die fortlaufenden Nummern imitieren die Rhetorik wissenschaftlicher Systematiken. Dennoch unterscheiden sich die beiden Bestände in zentralen Punkten. So sind die Reuss-Alben mithilfe eines umfassenden sozialen Netzwerkes zustande gekommen: Helene Reuss unterhielt zwischen 1897 und 1915 intensive Beziehungen zu anderen Sammelnden, die ihr Karten zuschickten, sowie zu Freunden und Familie. Es deutet einiges darauf hin, dass sie auch Mitglied in einem Sammelverein gewesen sein könnte. Dahingegen hat Else Erxleben zur Gänze unbeschriebenes Material kompiliert, das sie auf eigene Faust auf umfangreichen Reisen zusammengetragen hat.

Doch die beiden Bestände unterscheiden sich auch in ihrem Raumbezug: Während Helene Reuss drei Alben mit Ansichten von Wien (wenn auch als Teil einer größeren, geografisch umfassenderen Sammlung) angelegt hat, hat Else Erxleben ihrer eigenen Stadt Wien keinen Platz in den Alben eingeräumt. Die von ihr nach räumlichen Kriterien angeordneten Ansichtskarten sind vielmehr ein historischer Beleg für Reisepraktiken von Wien aus, zu einem Zeitpunkt, als das Reisen nicht nur für immer breitere Milieus leistbar, sondern auch in einer neuen Frequenz möglich geworden war. Sichtbar anhand des Bestandes werden zahlreiche Reisen ins europäische Ausland und regelmäßige Sommerfrischen als alternierende Mobilitätsformen. Sichtbar wird zudem, welche Orte als adäquate Reiseziele gegolten haben. So finden sich in den Alben in besonderer Dichte Zentren eines frühen elitären Tourismus wie Opatija/Abbazia, Reichenau oder das Salzkammergut.

Die drei Alben von Helene Reuss hingegen lenken den Blick auf die Hauptstadt Wien. Die Anordnung der Karten folgt auch hier räumlichen Kriterien. So verwendet Helene Reuss zum Teil Ansichtskarten mit Bezirks-Plänen als Strukturierungsbehelfe und stellt damit den Anspruch, systematisch nach Bezirken vorzugehen und die „ganze Stadt“ in den Alben abzubilden. Dennoch ist der Blick auf die Stadt zwangsläufig selektiv und zeugt in seinen Schwerpunkten von einer ganz bestimmten, milieuspezifischen Wahrnehmung, wenn etwa der 19. Bezirk mit Nussdorf und dem Kahlenberg überproportional – und in zwei der drei Alben – vertreten ist. Die zentrale Stellung des ersten Bezirks – allein 21 Albumseiten sind etwa dem Opernring mit dem Blick in die Kärntner Straße gewidmet – oder die umfangreiche Visualisierung des Praters kontrastiert in den Alben mit der zahlenmäßig untergeordneten Relevanz anderer Bezirke, die zwar vorkommen, aber ungleich weniger Aufmerksamkeit erhalten. In der Ordnung und Strukturierung der Ansichtskarten bildet sich damit – übrigens in beiden Fällen – so etwas wie eine „persönliche Geographie“ (Nancy Stieber) ab, die von der sozialen Situiertheit und räumlichen Wahrnehmung der beiden Albumhalterinnen zeugt.

Zeitlich sind beide Bestände der frühen Phase des Postkartensammelns zuzuordnen, auch wenn Else Erxleben bis in die frühen 1940er Jahre Karten ergänzt hat. Zu diesem Zeitpunkt war das Sammeln als gesellschaftliche Praxis bereits abgeflaut; die wesentliche Zäsur bildete der Erste Weltkrieg. Auch der hohe Anteil von Frauen sollte damit an ein Ende gekommen sein und stieg auch nicht wieder an, als ab den 1960er Jahren das Sammeln von Ansichtskarten – nun in einer nicht mehr zeitgenössischen, sondern historischen Perspektive – wieder an Bedeutung gewinnen sollte.
 

Literatur:

Patrizia Di Bello: Women’s Albums and Photography in Victorian England. Ladies, Mothers and Flirts. Hampshire: Ashgate 1988;

Nancy Stieber: Postcards and the Invention of Old Amsterdam Around 1900, in: David Prochaska, Jordana Mendelson (Hg.): Postcards. Ephemeral Histories of modernity, Pennsylvania 2010, S. 24–41;

Eva Tropper: Mischung der Sphären. Die Postkartenalben von Richard und Fanny Schaukal, in: Eva Tropper, Timm Starl (Hg.): Format Postkarte. Illustrierte Korrespondenzen, 1900 bis 1936 (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich 9), Wien 2014 S. 73–87;

Dies.: Praktiken im Postkartenalbum. Spuren sozialer Netzwerke, biografische Narration und Wissensorganisation, in: Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone (Hg.): Norm und Form. Fotoalben im 19. Jahrhundert (Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Heft 161) 2021, S. 43–56

Eva Tropper, Studium der Geschichte und Romanistik, seit 2022 Kuratorin für Fotografie an den Multimedialen Sammlungen des Universalmuseum Joanneum, seit 2018 Teil des Leitungsteams der Museumsakademie Joanneum. Zahlreiche Publikationen u.a. zur Geschichte der Postkarte sowie zu fotografischen Sammel- und Albumpraktiken. 

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