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Ilse Helbichs Wien der Zwischenkriegszeit – Teil 14
„Ausg’steckt is!“
Manchmal hatten sich die Eltern mit Verwandten oder einem Freund für den frühen Abend ein Rendezvous bei einem der kleinen Heurigen in Grinzing oder Sievering ausgemacht, und dann wurden wir Kinder „mitgeschleppt“, wie wir zueinander sagten.
Der Heurige bot nämlich für Kinder nicht all zuviel Abwechslung. Wenn es draußen regnete, konnte es bei diesen Weinhauern in den Augen von uns Kindern recht ungemütlich sein: Dann waren in einem ausgeräumten Schlafzimmer einige Holztische aufgestellt worden. In der engen Stube war es dunstig und so rauchig, dass man kaum Luft bekam.
Es waren kleine Winzer im Nebenberuf, die etwa „der Schlosser Rocken Bauer“ oder „Frisör Meier“ hießen, weil sie einen Hauptberuf ausübten und aus ihren kleinen Rieden nur soviel Wein kelterten, dass sie zum Verkauf ihres eigenen Weines 4 oder 5 Wochen ihre Heurigen öffnen durften.
Sie hatten hinter ihren ebenerdigen Häusern mit den darunterliegenden großen Kellern meist weite Höfe, in denen große Kastanienbäume wuchsen. Anderswo standen alte Obstbäume auf einem mageren Wiesengrund und manchmal war so ein grün lackierter Holztisch unter einem Fliederstrauch platziert worden.
Die beiden Kinder beobachteten, wie sich am Nachbartisch eine fröhliche Gruppe niederließ; ihrem Dialekt nach waren sie vielleicht aus Ottakring hergekommen – oder aus Meidling?
Drüben wurde jetzt fettiges Pergamentpapier ausgewickelt. Zum Vorschein kamen natürlich panierte Wienerschnitzel, die zu einem Heurigen Besuch gehörten und jetzt wurde auch schon das Einsiedeglas mit dem Erdäpfelsalat ausgepackt – ein paar Wochen später, wäre wohl ein Gurkensalat im Glas gewesen.
Und jetzt warten wie wir Kinder auch die Erwachsenen auf den Salamutschi-Mann. Ein solcher Verkäufer hat einen Bauchladen umgebunden und auf seinem Brett liegen einige Käsestücke und eine Salamistange, denn auch die gehören zu einer ordentlichen Heurigen Mahlzeit.
Wenn die Kinder Glück haben, kommt sogar der Herr Patrigani. Der Herr Patrigani ist Italiener und tut so, als ob er nicht gut Deutsch könne. Er beherrscht das Kunststück, mit der linken Hand die Salami hoch zu halten und in der Luft mit einem großen Messer, das er in seiner Rechten hält, hauchdünne Scheiben von der Wurststange abzuschneiden. Das Bestellte, Salami und Käse, wird dann auf einer kleinen Waage, die auch am Bauchladen mitgeführt wird, säuberlich gewogen und der im Kopf ausgerechneter Preis in schlechtem Deutsch genannt.
Bevor der Herr Patrigani vom Heurigen zu Heurigen zieht, sitzt er in seinem „Standl“ – war das in der Grinzinger Straße oder in der Sandgasse? Er verkauft dort ausschließlich seine berühmte italienische Salami und Emmentaler Käse. Dann sieht man als Kunde von ihm nichts als ein großes Gesicht oder eigentlich sieht man nur seine riesige Knollnase, die in lila und dunkelroter Farbe leuchtet; und wenn man genauer hinschaut, wachsen aus dieser Kartoffelnase viele kleine Wucherungen, als wären aus der Mutterkartoffel viele kleinen Kinder entsprungen. „Der Herr Patrigani ist eben ein großer Säufer“, stellt meine Mutter nüchtern fest.
Viel später erfuhr ich, dass dieser Herr Patrigani mit der Köchin des Dr. Urbancic verheiratet war. Dieser Dr. Urbancic wohnte in einem der niedrigen Biedermeier-Häuser, die sich die Grinzinger Straße entlangzogen. An seiner Haustür war ein Schild angebracht, auf dem unter dem Namen des Arztes groß „Seelenarzt“ stand. Das Volksschulkind, das ich damals war, entzifferte jedesmal, wenn sie an diesem Haus vorbeikam, die befremdliche Bezeichnung und grübelte lange darüber nach, wie dieser Doktor ein so unsichtbares und rätselvolles Wesen wie eine Seele behandeln würde. Jahre später begriff sie, dass der, der sich als Arzt für Seelen bezeichnete, ein Psychoanalytiker der ersten Stunde war und zu dem engen Kreis um Sigmund Freud während dessen Anfangsjahren gehörte.
Und noch etwas über den Herrn Patrigani erfuhr sie Jahre später von einer Augenzeugin: Nämlich, dass dieser durch seinen Beruf als Salamutschi-Mann ein, wie man damals sagte, „gemachter Mann“ geworden war, der daheim seine Groschen und Schilling Ersparnisse in klingende Goldmünzen umgewandelt in einem Leinensäckchen aufbewahrte.
Aber jetzt wieder zurück zum Heurigen, in den Hof hinterm kleinem Haus, wo Kellnerinnen mit vollen Karaffen und Weinkrügeln zwischen den grünen Tischen hin und her eilen – sie sind meist Verwandte des Wirtes. Und auf einmal könnte es sein, dass an einem der Nebentische große Heiterkeit ausbricht und sich über die anderen Tische ausbreitet. Überall wird laut gelacht und gesungen; Ausgelassenheit herrscht, im wörtlichen Sinne, als wäre den Menschen bewusstgeworden, dass sie jetzt tatsächlich ausgelassen sind, losgelassen von ihrer Arbeit und Sorgen.
Die beiden Kinder sitzen still da und sehen verständnislos dem fremden Treiben zu, ja fürchten sich sogar ein bisschen.
Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Textes aus dem Buch „Vineta“ von Ilse Helbich, das 2013 im Literaturverlag Droschl erschienen ist. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Diese Texte daraus sind bereits erschienen:
Eislaufplatz
Gassenbuben
Waschtag
Eismann
Spucknapf, Zigarrenrauch
Stadtmusiken
Der Laternenanzünder
Die Tramway
Tramway II
Tramway III
Ratschenbuben
Verwandlungen
Fensterpolster
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