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22.10.2021

Ilse Helbichs Wien der Zwischenkriegszeit – Teil 15

Schwarze Witwen

In dem Buch „Vineta“ erinnert sich die Schriftstellerin Ilse Helbich an ihre Kindheit in den 1920er und 1930er Jahren. Das Kapitel über Trauermode hat sie fürs Wien Museum Magazin ergänzt.

Manchmal, und das geschieht gar nicht so selten, kommt ihr auf der Straße ein schwarzes Gespenst entgegen: Eine Frau, die von oben bis unten in dieser abschreckenden Farbe gekleidet ist. Von ihrem Hut fällt ein dichtgewirkter Witwenschleier, der ein weißes, verhärmtes Gesicht umgibt.

Vielleicht ist sie unterwegs zum nahen (Grinziger) Friedhof, jedoch wie sie so dahin wallt, zerbirst mit einem Mal der Alltag der Strasse; die beiden miteinander tratschenden Frauen mit ihren Einkaufstaschen und das, seinen Reifen treibenden Nachbarskind, sind jetzt ausgelöscht.

Als die eigene Mutter vom auswärtigen Begräbnis ihrer Mutter zurückkommt, trägt sie Volltrauer. Das heißt, sie hat jetzt ein schwarzes Kleid, dass nicht so elegant sein darf wie ihre übliche Bekleidung, dazu immer schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe. Und jede Art von glänzendem oder glitzerndem Schmuck ist ihr streng verboten.

Nach einem halben Jahr geht die Mutter zur Halbtrauer über: Dann darf sie schon dunkelgraue Kleidung tragen und die schwarzen Strümpfe dürfen durch graue ersetzt werden.

In dieser Trauerzeit ist es vorgeschrieben, dass die betreffende Person niemals ihre Situation vergisst.

Die beiden Kinder haben eine angenehme Zeit, weil ihre Mutter nicht mit ihnen schimpfen darf und ihnen höchstens drohende Blicke zuwirft - sie sind sich jedoch nicht im Klaren, ob dies wirklich eine Verbesserung ist.

In der Zeit der „Halbtrauer“ darf die Mutter schon Jet-Schmuck tragen; die schwarzen Perlenketten, die tiefschwarzen Anhänger und Broschen sind aus einem damals modernen Material gefertigt, das, wie die Autorin erst neulich erfuhr, versteinerte Braunkohle ist.

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Was nach dem Trauerjahr weiter in Verwendung bleibt, sind die schwarz umsäumten weißen Taschentücher; sie erinnern die Trägerin noch lange, lange, an das verflossene Weh.

Eine Altersgenossin, die schon in ihrer Jugend aufmüpfig und gegen alles Vorgeschriebene war, erzählte mir neulich, sie hätte sich als Jugendliche vor ihren Freunden geschämt, wenn sie die sittenstrengen Trauerrituale dieser Epoche nicht eingehalten hätte. Sie nahm es in Kauf, dass wenn sie sich schwarzbekleidet zu eine Freundesrunde gesellte, die gerade erzählte komische Geschichte jäh unterbrochen wurde und Witze überhaupt nicht in Frage kamen.

Es war, als geböte die Trauernde ihrer Umgebung ihre Befindlichkeit zu respektieren, und gleichzeitig übermittelten ihr alle anderen um sie den Befehl, ja nicht zu vergessen, dass sie vor gar nicht langer Zeit einen großen Verlust erlitten hatte. Wahrscheinlich ergab sich daraus manchmal auch diese Heuchelei, diese Diskrepanz zwischen einem Ich und den Geboten der Umgebung, die wahrscheinlich für diese Epoche charakteristisch waren.

Männer und Kinder hatten es im Trauerjahr leichter: Den Männern wurde zu ihren gewöhnlich dunkelfarbigen dreiteiligen Anzügen nur eine schwarze Krawatte, statt der sonst übliche bunt gemusterten vorgeschrieben und sie trugen, wie auch die Kinder, auf Jacken- und Mantelärmeln den schwarzen Trauerflor, der sich noch länger als Abzeichen hielt.

Die Trauerrituale, wie sie hier beschrieben sind, wurden in manchen Wiener Bürgerfamilien in noch gesteigerte Form eingehalten. In einer seit Generationen im vierten Bezirk, der Wieden, lebenden Familie, wurden nach dem Unfalltot des Bruders, die drei halbwüchsigen Töchter in Volltrauer gekleidet. Die Jüngste, damals ein 10jähriges Volksschulkind, saß also von oben bis unten im tiefsten Schwarz in der sie umgebenden Klasse voll fröhlich gekleideter Mädchen und wurde von denen wie ein Unglücksvogel von allen Gesprächen und Spielen ausgeschlossen. „Damals habe ich mir vorgenommen, dass ich mein ganzes Leben lang, keinen schwarzen Pullover mehr anziehen werde,“ sagt die heute 94jährige, „und ich habe dieses Versprechen auch gehalten.“

Der Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Textes aus dem Buch „Vineta“ von Ilse Helbich, das 2013 im Literaturverlag Droschl erschienen ist. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Diese Texte daraus sind bereits erschienen:
Eislaufplatz
Gassenbuben
Waschtag
Eismann 
Spucknapf, Zigarrenrauch
Stadtmusiken
Der Laternenanzünder
Die Tramway
Tramway II
Tramway III
Ratschenbuben
Verwandlungen
Fensterpolster
„Ausg’steckt is!“

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