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Martina Nußbaumer, 15.9.2023

Ansichtskarten als soziales Medium um 1900

„Soeben vom Abendspaziergang heimgekommen, sende ich dir ein Lebenszeichen.“

Ansichtskarten werden heute oft mit hübschen Motiven und Urlaubsgrüßen gleichgesetzt. Dass sie um 1900 aber ein wichtiges Medium für rasche Kommunikation innerhalb der Stadt und Nachrichtenaustausch über die Ferne waren, zeigen die facettenreichen Mitteilungstexte auf historischen Karten.

„Liebste Frieda! Wie geht es dir? Wir sind alle gesund bis auf Hilda, welche noch immer etwas hustet. Richard ist jetzt sehr herzig. Mit vielen herzlichen Grüßen und Küssen deine dich innigst liebende […].“

Diese Textbotschaft auf einer Ansichtskarte mit einem Bild der Nähmaschinenfabrik Josef Anger & Söhne, die im Jahr 1900 von Wien nach Amstetten gesandt wurde und mit dem Appell an die in einem Internat lebende Empfängerin schließt, „nur recht brav“ zu lernen, ist eine von Tausenden, die um die Jahrhundertwende täglich per Ansichtskarte von und nach Wien oder innerhalb der Stadt verschickt wurden. Um 1900 erlebte das Medium Ansichtskarte nicht nur einen Höhepunkt im Hinblick auf die Vielfalt der erhältlichen Bildmotive, sondern auch seine größte Bedeutung als Medium der Fernkommunikation unter Verwandten, Freund:innen, Liebenden und Geschäftspartner:innen. Da das Telefon zu dieser Zeit noch teuer und wenig verbreitet war, erwiesen sich illustrierte und nicht-illustrierte Postkarten – im Versand günstiger als ein Brief oder ein Telegramm – für breite Bevölkerungsschichten als erstes Mittel der Wahl, wenn es galt, über Distanz Kurzinformationen auszutauschen, Alltagsbelange zu organisieren oder schlicht Kontakt zu halten. Oft wurden sogar mehrmals täglich Karten zwischen den Korrespondenzpartner:innen verschickt, ermöglicht durch postalische Zustellfrequenzen, die im 19. Jahrhundert sukzessive ausgeweitet wurden und, so Eva Tropper, vor dem Ersten Weltkrieg ihren Höchststand erreichten: Im 1. Wiener Gemeindebezirk wurde die Post damals werktags sieben Mal ausgetragen, in den angrenzenden Bezirken sechs Mal; eine Briefzustellung dauerte 1912 im Durchschnitt eineinhalb bis zwei Stunden.

Via Postkarte ließen sich somit nicht nur rasch Neuigkeiten über Familienereignisse oder geschäftliche Angelegenheiten austauschen, sondern auch Verabredungen für den gleichen oder nächsten Tag organisieren („auf Wiedersehen morgen um 3h im Pensionat“) oder kurzfristig Änderungen von Reiseplänen bekannt geben. Davon, wie selbstverständlich ein hochfrequenter Austausch von Nachrichten via Postkarte in vielen Kreisen wurde, zeugt nicht zuletzt die Vielzahl von Klagen über ausbleibende Mitteilungen, die auf zahlreichen Karten verschickt wurden: „Zwei Tage erhielt ich nichts von dir mein Kind bin ganz verstimt darüber […] hoffe euch gesund“, schrieb etwa eine enttäuschte Mutter 1905 von Wien nach Szécsény.

Ein Kommunikationsmedium für alle sozialen Schichten

Mit der weiten Verbreitung der Ansichtskarte als Medium der Alltagskommunikation um 1900 – allein in der Sammlung des Wien Museums haben sich rund 1500 in den Jahren zwischen 1895 und 1918 beschriebene und verschickte Karten erhalten – setzte sich eine Erfolgsgeschichte fort, die bereits mit der Einführung der – noch unillustrierten – Korrespondenzkarte im Jahr 1869 begonnen hatte. Das neue Format, das als zeitgemäße Vereinfachung und Effizienzsteigerung der schriftlichen Kommunikation beworben wurde, reagierte „strategisch-pragmatisch“ (Anett Holzheid) auf das rapide wachsende Kommunikationsaufkommen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, das eng mit der Internationalisierung von Handelsbeziehungen und der zunehmenden beruflichen und privaten Mobilität der Bevölkerung verknüpft war. In Zeiten der häufigeren räumlichen Trennung von Familienangehörigen, Freund:innen und Liebenden – bedingt durch die zunehmende Arbeitsmigration in die Städte und vermehrtes privates Verreisen – wuchs, so Robert Lebeck und Gerhard Kaufmann, auch das Bedürfnis nach kurzer Mitteilung und Austausch per Post. Im Gegensatz zum Brief, der als Kommunikationsmedium bürgerlicher Oberschichten Erfahrung im Umgang mit Schrift und Stil und ausreichend Zeit und Muße beim Verfassen erforderte, gab die neue Korrespondenzkarte mit ihrem beschränkten Platz für Mitteilungen auch jenen, die weniger geübt waren und über weniger Zeit verfügten, die Möglichkeit, schriftlich miteinander in Kontakt zu treten. Vorgedruckte Gratulationsformeln oder Grüße („Fröhliche Weihnachten“, „Grüße aus …“) auf vielen Karten boten, so Lebeck und Kaufmann, zusätzliche Hilfestellung beim Schreiben. All diese Faktoren trugen neben dem Umstand, relativ kostengünstig zu sein, dazu bei, dass das heute als „Postkarte“ bekannte Format zum „ersten demokratischen Kommunikationsmedium“ avancierte, das laut Anett Holzheid bereits kurz nach seiner Einführung von allen sozialen Schichten verwendet wurde.
 

Beweise des „Ich bin hier“

Mit der wachsenden Popularisierung von illustrierten Postkarten ab den späten 1880er Jahren und der wachsenden Verfügbarkeit einer Vielzahl von Motiven ließen sich Botschaften wie „Gruss aus dem Etablissement Ronacher“ bei Bedarf auch ganz ohne eigenen Mitteilungstext versenden – die Unterschriften der Grüßenden genügten, das Bild und der Grußvordruck sprachen für sich. Die in der Sammlung des Wien Museums erhaltenen Beispiele von Mitteilungen via Ansichtskarte weisen jedoch darauf hin, dass der Großteil der Sender:innen um 1900 Wert auf eigene, in Stil und Länge zwischen Telegramm und Kurzbrief variierende Textbotschaften legte und beim Verfassen der Nachricht nicht zwangsläufig Bezug auf das Bild nahm. Aktive Text-Bild-Bezüge gibt es vor allem dort, wo sich Ansichtskarten-Sammler:innen wechselseitig ausgewählte Motive für die jeweilige Sammlung zusenden oder die Ansichtskarte als direktes Medium des „Sich-Verortens“ (Eva Tropper) und des Beweises „Ich bin hier“ genutzt wird: Bei Grüßen vom Besuch des Stephansdoms, vom Ausflug zum Heurigen in Nußdorf oder von der Ruderpartie im Franz-Josefs-Land an der Alten Donau. Bei Nachrichten vom glücklichen Ankommen in Floridsdorf oder vom kurzen Zwischenaufenthalt in Aspern. Oder bei Berichten von einer neu angetretenen Stelle, wie sie auf einer im Jahr 1905 verschickten Ansichtskarte des Hotels Wandl am Petersplatz zu lesen sind: „Lieber Freund! Bin schon seit 1 Woche in Condition u. geht mir sehr gut, werde wahrscheinlich hier bleiben da ich in kurzer Zeit Zimmeroberkellner werden kann.“

Selbstdarstellung und Einbindung in soziale Netzwerke

Manchmal wird die räumliche Verortung auch aktiv mit einer konkreten sozialen, kulturellen oder politischen Verortung des oder der Schreibenden verknüpft, wie etwa auf einer Karte mit einer Ansicht der Wiener Hofoper, die 1899 von einem deutschnationalen Opernfan von Wien nach Pörtschach geschickt wurde: „Heil! Karte am 17.9. erhalten, besten Dank! Timmer theilt mir heute mit, dass du demnächst ‚Meistersinger‘ hören kommst, würde mich freuen, vielleicht sehen wir uns noch vorher in Kärnten! Heute ‚Rheingold‘ in guter Besetzung. Heil!“

Karten wie diese zeigen, dass Ansichtskarten um 1900 nicht nur für „Grüße aus Wien“ und als Kurzmitteilungsmedium genutzt wurden, sondern auch als Medium der Selbstdarstellung und „sozialen Einbindung“ (Anett Holzheid) in unterschiedliche Netzwerke. Im größeren Teil der Kartenkorrespondenzen, die im Wien Museum überliefert sind, erfolgt das In-Beziehung-Setzen mit den Adressat:innen jedoch unabhängig vom Bildsujet. Für Glückwünsche zum Geburtstag oder zum „schönen Zeugnis“ braucht es den Bildbezug ebenso wenig wie für Berichte über Krankheiten und Todesfälle, Rügen für ausbleibende Besuche, den Dank für erhaltene Pakete oder für Schilderungen der sommerlichen Hitze in der Stadt. Die Nutzung der Ansichtskarte um 1900 dürfte sich damit, wie auch die von Anett Holzheid analysierten Beispiele zeigen, in vielen Fällen kaum von jener der unbebilderten Korrespondenzkarte unterschieden haben, die zeitgleich weiter im Umlauf blieb: Es geht vor allem um einfache, rasche Mitteilungen und – oft noch wichtiger – darum, ein „Lebenszeichen“ zu schicken, in Kontakt zu bleiben, mit Einzelpersonen wie auch mit größeren Gruppenverbänden. Häufig lassen die Schreibenden zu diesem Zweck auch Grüße an Dritte im Umfeld des Empfängers oder der Empfängerin ausrichten, übermitteln selbst Grüße von weiteren Personen oder unterschreiben gleich zu mehrt.

Mikrohistorische Momentaufnahmen

Ob mit oder ohne Sendertext-Bild-Bezug: Die Verwendung von Ansichtskarten als ‚soziales Medium‘ um 1900 nimmt inhaltlich, strukturell und funktional viel von der Art und Weise vorweg, wie wir heute über SMS, Messengerdienste oder Chatgruppen kommunizieren. Die lange Zeit von Sammler:innen und Museen wenig beachteten Textbotschaften auf den Karten erweisen sich dabei als faszinierende Quelle für kultur-, alltags-, sozial- und geschlechterhistorische Fragestellungen, weil sie in Form von „mikrohistorischen Momentaufnahmen“ (Rudolf Jaworski) Einblicke in den Arbeits- und Beziehungsalltag, in die Freizeitpraktiken und Geselligkeitsformen von unterschiedlichen sozialen Schichten geben – auch solchen, von denen ansonsten keine schriftlichen Quellen überliefert sind. Die aus Wien versandten Ansichtskarten erzählen in ihrer Vielsprachigkeit und über die Adressen ihrer Empfänger:innen nicht zuletzt auch viel über Arbeitsmigration aus den Kronländern nach Wien: Sie berichten von Wahrnehmungen des städtischen Lebens, Arbeitsbedingungen vor Ort, Hoffnungen auf sozialen Aufstieg, Erfahrungen der Fremdsprachigkeit, Momenten des Vergnügens – und vom Kontakthalten mit den Freund:innen in der Heimat. „Lieber Freund. Ich grüße dich und sei mir nicht böse, dass ich so lange nicht geschrieben habe. Denn ich muss bis 10, 11 arbeiten und danach bis ich die Werkstatt gekehrt habe ist die halbe Nacht [herum]“, schreibt ein Mann auf Tschechisch im Jahr 1900 auf einer Ansichtskarte, die den Wiener Franz-Josefs-Kai zeigt und nach Bílá Třemešná verschickt wurde. Trotz aller Erschöpfung berichtet er dem Freund auch begeistert von den Wiener Feierlichkeiten anlässlich des 70. Geburtstags von Kaiser Franz Joseph: „Ich muss dir auch schreiben welch großer Prunk und festliche Beleuchtung. Ich würde dir wünschen, dass du diese Festlichkeiten unseres Kaisers F. Jo. I. sehen könntest.“

Karten schreiben als Zeichen besonderer Wertschätzung

In Beziehung bleiben, Anteil nehmen, Wertschätzung zeigen: Das sind Funktionen des Verschickens von Ansichtskarten, die auch den grundsätzlichen Wandel der Postkarte als Kommunikationsmedium im 20. Jahrhundert überdauert haben. Mit der wachsenden Leistbarkeit der Telefonie in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg verliert die Ansichtskarte sukzessive ihre Funktion als Medium der raschen Kurzmitteilung; spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg, so Eva Tropper, wird die Verengung ihrer Nutzung auf touristische Zusammenhänge evident, dominiert der „Gruß aus der Ferne“, werden innerhalb von Wien verschickte Karten – um 1900 noch übliche Praxis – rar. Mit dem Aufkommen neuer elektronischer Bild-Text-Nachrichtenformate im späten 20. Jahrhundert wird die Ansichtskarte als Mittel der effizienten Kommunikation und Alltagsorganisation endgültig obsolet. Doch gerade das Faktum, dass die Ansichtskarte heute eine „Sonderkommunikationsform mit Seltenheitswert“ geworden ist, macht sie im Zuge gegenwärtiger „Digital-Detox-Trends“, so Anette Holzheid, auch wieder attraktiv. Persönlich ausgewählt, individuell handschriftlich betextet und adressiert, extra zur Post getragen und damit ungleich aufwändiger zu verschicken als ein SMS oder eine E-Mail wird sie nun zu einem Zeichen besonderer Aufmerksamkeit für das Gegenüber. Die Formulierung „Heute nur eine Karte“, wie sie auf Ansichtskarten um 1900 noch oft als Entschuldigung für die Verwendung dieses Mediums – und für das Ausbleiben eines versprochenen Briefs – vorgebracht wurde, hat damit wohl dauerhaft ausgedient.

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Literatur:

Anett Holzheid: Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink, Jochen Strobel (Hg.): Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Berlin, Boston: De Gruyter, 2020, S. 409–438 (insb. S. 412–420, 426, 435f.).

Anett Holzheid: Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie, Berlin 2011 (insb. S. 9–26, 44–66, 144, 165–200, 246f., 295, 344–349).                                   

Rudolf Jaworski: Alte Postkarten als kulturhistorische Quellen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H 3223 E, Jg. 51, Heft 2, Februar 2000, S. 88–102 (insb. S. 91, 93).

Robert Lebeck, Gerhard Kaufmann: Viele Grüße… Eine Kulturgeschichte der Postkarte, Dortmund 1985 (insb. S. 403–408).

Eva Tropper: Illustrierte Postkarten – ein Format entsteht und verändert sich, in: Eva Tropper, Tim Starl (Hg.): Format Postkarte. Illustrierte Korrespondenzen, 1900 bis 1936, Wien 2014, S. 10–41 (insb. S. 10–18).

Eva Tropper: Hier ist es schön oder Was man von Ansichtskarten über Graz erfahren kann, in: Margareth Otti, Otto Hochreiter (Hg.): Hier ist es schön. Grazer Ansichtskarten (Ausstellungskatalog stadtmuseumgraz), Graz 2007, S. 34–59 (insb. S. 56–59).

 

Quellen:

Als Quellenkorpus für diesen Beitrag dienten rund 1500 Ansichtskarten aus der Sammlung des Wien Museums, die zwischen 1895 und 1918 verschickt wurden und die im Zuge des Crowdsourcing-Projekts „Ansichtskartengrüße aus dem Wien Museum“ zwischen Juni 2021 und Juli 2022 von Freiwilligen transkribiert wurden.

Martina Nußbaumer studierte Geschichte, Angewandte Kulturwissenschaften und Kulturmanagement in Graz und Edinburgh und ist seit 2008 Kuratorin im Wien Museum. Ausstellungen, Publikationen und Radiosendungen (Ö1) zu Stadt- und Kulturgeschichte im 19., 20. und 21. Jahrhundert, Geschlechtergeschichte sowie zu Geschichts- und Identitätspolitik.

 

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