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Sándor Békési, 4.10.2023

Die Eigenart der Ansichtskarte

Zwischen Abbild und Sinnbild

Ihre Motive neigen zur Beschönigung oder gar Verkitschung der Wirklichkeit. Dabei waren ihr Bildrepertoire und ihre sozialen Funktionen einst weitaus vielfältiger als heute. Im Folgenden einige generelle Überlegungen zur illustrierten Postkarte, einem wichtigen Bildmedium des langen 20. Jahrhunderts.

Die Ansichtskarte war keine Erfindung – und schon gar keine österreichische. Sie hat sich vielmehr sukzessive aus der Korrespondenzkarte (der nicht-illustrierten Postkarte) entwickelt. Diese wurde 1869 in Österreich-Ungarn tatsächlich als weltweite Innovation eingeführt und galt bald als ein schnelles, billiges und beliebtes Kommunikationsmittel. Die Ansichtskarte hingegen entstand mit einiger Verspätung quasi zwischen Duldung und Reglementierung durch die Postverwaltung. Diese versuchte den rasch wachsenden Postkartenverkehr in handhabbare Bahnen zu lenken, verdiente aber gleichzeitig an den Portogebühren. Einige der Maßnahmen hatten gar nur nachholenden Charakter, nachdem z. B. Korrespondenzkarten immer wieder von privater Seite regelwidrig bebildert oder hergestellt worden waren. Erst im Jahr 1881 war es dann in der Monarchie erlaubt, amtliche Postkarten mit bildlichen Darstellungen zu bedrucken, die allerdings weder „politisch-demonstrativen Charakters“ noch sonst „unstatthafter Natur“ sein durften. Ab 1885 durfte schließlich auch die Privatwirtschaft selbst illustrierte Postkarten erzeugen, die auch im Postverkehr zugelassen waren (in Deutschland bereits seit 1872 möglich).

Neben dem unmittelbaren Vorgängermedium, der Postkarte, hatte jedoch die Ansichtskarte in formaler wie auch in funktionaler Hinsicht zahlreiche Vorläufer. Dazu zählten Souvenir-Blätter und Leporello-Alben mit Wien-Ansichten, illustrierte Briefpapiere und Geschäftskarten, Glückwunschkarten oder Cabinet-Fotografien. Diese visuellen Techniken hatten bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Konditionierung des Sehens beigetragen. Bei der Bebilderung der Postkarte wurde zunächst vor allem auf Bildtraditionen der populären Druckgrafik zurückgegriffen. Den Anfang machten Werbeillustrationen, später kamen auch kleine Gebäude- und Stadtansichten hinzu. Die illustrierten Postkarten unterschieden sich zunächst weder motivisch noch technisch von anderen Erzeugnissen der Luxuspapier- und Reiseandenken-Industrie. Neu waren das standardisierte Format und die offene Versandmöglichkeit per Post. Auch die beliebten Mehrbild-Darstellungen der Stadt, eine bis heute sehr verbreitete Form der touristischen Ansichtskarte, mussten nicht eigens erfunden werden. Erst in der Folge entwickelte die illustrierte Postkarte teilweise eine eigene Formen- und Bildsprache.

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Die Entstehung der illustrierten Postkarte aus den Bildwelten von Vorläufermedien war also ein an sich naheliegender, aber etwas längerer Prozess. Von den ersten Korrespondenzkarten und den ersten Postkarten im engeren Sinn mit Stadt- und Gebäudeansichten vergingen (zumindest in Wien) fast eineinhalb Jahrzehnte. Und der eigentliche Boom der Ansichtskarten setzte erst in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende ein (siehe dazu in dieser Reihe den Beitrag von Helfried Seemann). Damals begann auch international ein reger Austausch von illustrierten Postkarten, der als eine Art Bildrevolution in vielerlei Hinsicht mit den heutigen elektronischen Bildwelten vergleichbar ist. Auslöser waren die zunehmende Verstädterung und Mobilität auch in Form des Tourismus, und ermöglicht unter anderem durch die Standardisierung und Vernetzung des Postwesens sowie neue Reproduktionsverfahren. Die Ansichtskarte wurde damit Ausdruck und Teil dieser Globalisierungsphase. Ihre leichte Verfügbarkeit und weltweite Verbreitung machten sie zum ersten globalen Bildmedium schlechthin.

Aber auch nach ihrer Etablierung blieb die Ansichtskarte kein isoliertes Medium und war nicht der einzige Bildträger geschönter und stereotypischer Stadtdarstellungen. Bis heute steht sie in medialer Verwandtschaft bzw. im medialen Verbund mit anderen populären Medien wie beispielsweise Bildbänden und Tourismusplakaten, Kleinbild-Fotoserien und Kalendern oder anderen Souvenirformen – bis hin zu den heute modischen Kühlschrankmagneten mit Wien-Ansichten. All diese Produkte verwenden vielfach ähnliche oder sogar dieselben Motive, basieren auf vergleichbaren Gestaltungsprinzipien und werden nicht selten von denselben Produzent:innen hergestellt.

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Das klassische Ansichtskartenbild zeichnet sich durch bestimmte Merkmale aus: Dazu gehören die Kanonisierung bestimmter Motive durch Wiederholung, die Retusche und Montage als wichtige Konstruktionsprinzipien, die Inszenierung einer „schönen Ordnung“ und nicht zuletzt die Fokussierung auf zentrale Sehenswürdigkeiten. Dies gilt in erster Linie für die touristische Postkarte, die am weitesten verbreitete Form der topografischen Ansichtskarte (siehe dazu Interview zur Ausstellung). Daneben gab es aber – vor allem vor der Mitte des 20. Jahrhunderts – auch andere Themen und Funktionen, die die illustrierte Postkarte enthielt bzw. erfüllte. In der Zeit vor der zunehmenden medialen Konkurrenz durch Illustrierte, Privatfotografie, Kino oder Fernsehen transportierte sie günstig und relativ schnell auch Bildnachrichten, war ein wichtiges Werbemittel und lokaler Identitätsträger. Und ihr Motivspektrum beschränkte sich nicht auf touristische Ansichten. Als Nischenprodukt war sogar die Straßenfotografie im Repertoire der Ansichtskarte gelegentlich vertreten (siehe in dieser Reihe den Beitrag von Michael Ponstingl). Allein wenn man eine Auswahl beliebter Serien Revue passieren lässt, wird die motivische Vielfalt und durchaus divergierende Bildsprache der Ansichtskarte im Laufe der Geschichte ersichtlich.

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Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Ansichtskarten inhaltlich offenbar oft politischer sind als gemeinhin angenommen (siehe die sogenannten Ereigniskarten im Interview zur Ausstellung), andererseits aber auch weniger politisch als manchmal vermutet. Denn ihre Motive sind in der Regel eher das Ergebnis opportunen, an der erwarteten Nachfrage auf dem Bildermarkt orientierten Handelns der Produzenten, als dass sie planvoll „von oben“ gesteuert worden wären. Das gilt selbst für die zahlreichen Postkarten mit Hakenkreuz als aufgehende Sonne im Jahr 1938. Von einem „Blickregime“ im engeren, eigentlichen Sinne kann man nur bei den klassischen Propagandapostkarten im Auftrag einer politischen Organisation sprechen. 

So zeigt sich, dass das Bild der Ansichtskarte zwar meist aus gefällig konstruierten und kanonisierten Ansichten besteht, das dadurch vermittelte Bild der Stadt aber im Laufe der Geschichte durchaus variieren kann. Deutlich wird dies auch im Bereich der sogenannten selbstverlegten Karten. Häufig handelte es sich dabei um Postkarten mit Produktwerbung größerer Firmen, die Auftraggeber konnten aber auch Gastronomiebetriebe oder sogar kleine Einzelhandelsgeschäfte sowie Schulen, Krankenhäuser und Vereine oder die öffentliche Hand sein. Auch Künstler:innen und Privatpersonen betätigten sich immer wieder als Eigenverleger. So entstand bis in die jüngste Vergangenheit ein bemerkenswertes, niederschwelliges Segment der Ansichtskartenproduktion. Ihr Motivrepertoire spiegelt die große thematische Bandbreite des Mediums und seinen Gebrauch im Alltag auch durch Einheimische wider. (Für wertvolle Hinweise diesbezüglich danke ich Walter Lukan.) Die Ansichtskarte auf ein verkitschtes touristisches Kommunikationsmittel zu reduzieren, wird ihr daher vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gerecht. So gesehen ist weniger die Frage von Interesse, was die Ansichtskarten nicht zeigen, sei es im Zentrum oder an der Peripherie, sondern eher, was sie alles über die gewohnten Standardbilder hinaus sichtbar machen.

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Wie praktisch jedes Bildmedium ist auch die Ansichtskarte beides: Abbild und Sinnbild. Sie kann den Blick auf die „erste“ Wirklichkeit verklären und zugleich auf sie verweisen. Ansichtskarten bilden räumliche Verhältnisse ab und sind mehr oder weniger symbolisch aufgeladene Konstrukte mit einer „zweiten“ Wirklichkeit. Sie stellen also eine spezifische Mischung aus Dokumentation und Interpretation dar, deren Verhältnis je nach Darstellungsweise und Reproduktionsverfahren unterschiedlich sein kann und quellenkritisch berücksichtig werden muss. Selbst stark überzeichnete grafische Ansichten enthalten noch analoge Bezüge zur physischen Realität der Stadt. Und wiederum ist auch die am wenigsten retuschierte sogenannte „Echte Fotokarte“ zwangsläufig selektiv und tendenziös. In der Verfremdung ihrer Inhalte kann die Postkarte letztlich gar nicht zu weit gehen, steht sie doch in einem gewissen Spannungsfeld: Sie muss zwischen lokaler Verortung bzw. (Wieder-)Erkennbarkeit einerseits und globaler Lesbarkeit andererseits vermitteln. Dabei sind Bildmanipulationen nichts Verwerfliches, sondern dem Medium immanent. So können auch die radikalste Montage und Retusche als ein kreativer Akt der Verdichtung und Veranschaulichung von Wirklichkeit verstanden werden. Sie zeigen an, was zu einer bestimmten Zeit als sehenswert und attraktiv galt. Damit sind Ansichtskarten in ihrer Gesamtheit ebenso kulturhistorisch relevante Quellen für kollektive Bildpräferenzen wie auch wichtige (oft einzige) Bilddokumente für zahlreiche Adressen und Situationen in der Stadt.

Ab den 1960er Jahren haben sich die Motivik wie die gesellschaftliche Praxis von Ansichtskarten stark verengt. Ihre Nutzung im Fremdenverkehr begann eindeutig zu dominieren, was sich in der Konzentration auf bekannte Landmarks und stark klischeehafte Darstellungen niederschlug. Vereinzelte Versuche, Postkartenbilder neu zu formulieren und vom verkitschten Image zu befreien, sind in Wien seit Mitte der 1980er Jahre bekannt. In den letzten Jahrzehnten hat sich – trotz oder gerade wegen der medialen Konkurrenz durch Internet und Social Media – neben der abnehmenden Zahl touristischer Postkarten die „neue“ Wiener Ansichtskarte weiter ausdifferenziert. Dabei werden charakteristische, aber unspektakuläre Momentaufnahmen oder Details aus dem Alltag ins Bild gesetzt oder klassische Sehenswürdigkeiten ironisch aufs Korn genommen. Das Spektrum reicht bis zu politisch-aktionistischen Motiven. Neben neuen, kleineren Verlagen bedienen sich zunehmend auch Künstler:innen und kreative Selbstständige der Ausdrucksform Ansichtskarte. Und sie machen das Medium auch für die lokale Kundschaft wieder interessant, sei es nur als Souvenir oder Memorabilie. Die Geschichte der analogen, papierenen Ansichtskarte – und noch weniger ihrer elektronischen Ausformungen – ist nicht zu Ende.

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Literatur:

Postwertzeichen der Öst.-Ung. Monarchie unter Benützung amtlicher Quellen (Hg. v. Deutschen Verein für Briefmarkenkunde, bearb. v. H. Kropf), Prag 1902, S. 212f.

Heiko Hausendorf et al.: Vorwort, in: dies. (Hg.), Ansichten zur Ansichtskarte. Textlinguistik, Korpuspragmatik und Kulturanalyse, Bielefeld 2023, S. 9–16.

Kent Liedecker: Konstruierte Bilder. Ansichtskarten von New York, in: Kramer, Thomas (Hg.): New York auf Postkarten 1880–1980. Die Sammlung Andreas Adam, Zürich 2010, S. 16–32.

Naomi Schor: Cartes Postales: Representing Paris 1900, in: Critical Inquiry, Winter 1992, S. 188–244.

Nancy Stieber: Postcards and the Invention of Old Amsterdam Around 1900. In: Mendelson, Jordana / Prochaska, David (Hg.): Postcards. Ephemeral Histories of Modernity, Pennsylvania 2010, S. 24–41.

Werner Telesko: Visualisierungsstrategien im Tourismus in der Spätphase der Habsburgermonarchie. Postkarten, Plakate und andere Bildmedien, in: Peter Stachel, Martina Thomsen (Hg.), Zwischen Exotik und Vertrautem: Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten, Bielefeld 2014, S. 31–46.

Eva Tropper: Illustrierte Postkarten – ein Format entsteht und verändert sich, in: dies. und Timm Starl (Hg.): Format Postkarte. Illustrierte Korrespondenzen, 1900 bis 1936 [anlässlich der Ausstellung am Photoinstitut Bonartes, Wien (22. Oktober 2014 - 13. Februar 2015) und Graz Museum (12. März - 15. Juni 2015)] Wien, S. 10–41.

Martin Willoughby: Die Geschichte der Postkarte, Ein illustrierter Bericht von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart, Erlangen 1993.

Sándor Békési studierte Geschichte, Geographie sowie Wissenschaftstheorie und -forschung in Wien und ist seit 2004 Kurator am Wien Museum im Sammlungsbereich Stadtentwicklung und Topografie. Zahlreiche Publikationen und Forschungsarbeiten zum Thema Stadt-, Umwelt- und Verkehrsgeschichte.

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